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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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Sie habe ihn während der ganzen Zeit hin und wieder besucht und Bartleby – den man gut habe belügen können, weil er lieber gar nichts habe wissen wollen – gesagt, sie fahre zu Konferenzen. Griffin selbst habe sie damals, als er seinen Vater in Amherst besucht habe, beinahe ertappt. Sie habe lange vor seiner Ankunft fort sein wollen, doch ihr Wagen, der direkt vor dem Haus gestanden habe, sei nicht angesprungen. Gerade noch rechtzeitig sei der Motor doch noch in Gang gekommen. Sie seien auf der Zufahrtsstraße aneinander vorbeigefahren, doch er sei mit dem Kopf in den Wolken gewesen und habe sie nicht bemerkt. Hier endete die erste Folge, und als Griffin sie fragte, warum sie ihm das unter so großen Mühen erzähle, sagte sie: »Damit du es weißt. Du denkst, du weißt alles über deinen Vater und mich, aber das stimmt nicht.«
    »Warum ist das so wichtig?«, fragte er, doch sie lächelte bloß und schloss die Augen. Wollte sie damit sagen, dass er seine Zeit damit verschwendete, eine Geschichte über die Brownings zu schreiben, wenn es ebensogut eine über seine Eltern hätte sein können? Dass ein Schriftsteller mit echter Fantasie nicht »mit dem Kopf in den Wolken« gewesen wäre, wenn er stattdessen in ihrem Kopf hätte sein können?
    Der Sex, erzählte sie ihm mit einem schiefen kleinen Lächeln (über ihre Erfindung oder ihre Erinnerung?), war besser als je zuvor in ihrer Ehe. Miteinander  zu betrügen, verlieh der Sache eine ganz neue Dimension der Erregung. Später, als sein Vater und Claudia an die Universität zurückgekehrt waren, machten sie einfach weiter. Schließlich stellte die fette Kuh seinen Vater vor die Wahl – sie oder seine Exfrau –, nicht ahnend, wie seine Entscheidung ausfallen würde. (Hier wurde das schiefe Lächeln etwas breiter.)
    Jedes Mal wenn sie einschlief, war Griffin sicher, dass sie die Geschichte, die sie ihm erzählte, vergessen oder nach dem Erwachen nicht die Kraft haben würde, sie fortzusetzen, doch er täuschte sich. Die Geschichte schien ein ebenso fundamentales Bedürfnis wie das Atmen zu stillen. »Lassen Sie sie erzählen«, riet die Schwester.
    »Aber nichts davon stimmt. Sie verausgabt sich, indem sie dieses lächerliche Garn spinnt, das ohnehin keiner von uns glaubt. Es ist totaler Quatsch.«
    Das trug ihm einen strengen Blick ein. »Für sie nicht. Sie beichtet. Sie wird aufhören, wenn es genug ist oder wenn sie nicht mehr weitersprechen kann.«
    Immer wenn sie mit ihrer Fabel fortfuhr, spürte er, wie ihm das Herz sank. Und weiter geht’s , seufzte er in Gedanken, doch während der Schnee sich an den Fenstern höher und höher türmte, hörte Griffin nach und nach genauer hin, und schließlich war er regelrecht fasziniert von dieser Geschichte, die geboren werden wollte, während ihre Erzählerin langsam dahinschwand.
    Irgendwann hatte eins von Bartlebys erwachsenen Kindern gemerkt, was zwischen ihr und seinem Vater war, was erklärte, warum die Geschwister nach dem Tod ihres Vaters vereint waren in ihrer Entschlossenheit, seine Mutter keinen Cent erben zu lassen, die kleinen Scheißer. Nicht dass ihr das tatsächlich etwas ausgemacht hätte. Bartleby hatte nie irgendetwas besessen, das sie wirklich hätte haben wollen (ein weiteres schiefes Lächeln, damit Griffin merkte, dass sie durchaus nicht nur weltliche Güter meinte). Sie behauptete sogar, sie habe seinen Vater auch später an den Orten besucht, wo er andere akademische Posten bekleidete, allerdings weniger häufig. Tatsächlich hätten sie miteinander geschlafen, solange er dazu in der Lage gewesen sei, und selbst danach hätten sie die Beziehung nicht ganz abgebrochen.
    War irgendetwas von all dem wahr? Griffin konnte sich nicht entscheiden. Die Geschichte war nicht ganz schlüssig oder vielmehr: Sie war für eine Weile schlüssig, dann aber nicht mehr und schließlich irgendwie doch wieder. In dem Versuch, sie miteinander zu vereinbaren, verglich Griffin in Gedanken die Morphiumgeschichte Punkt für Punkt mit der früheren Version. Mindestens ein Detail der neuen Fassung stimmte nicht: Griffin hatte seinen Vater nie in Amherst besucht, also hatte seine Mutter ihn entweder mit einer anderen Person verwechselt, mit einer, die sie beinahe ertappt hätte, als ihr Wagen nicht ansprang (Claudia, zurück aus Charleston?), oder aber sie hatte die ganze Episode erfunden. Das Problem war, dass es relativ wenige auffällige Diskrepanzen gab, und diese aufzulösen, war auch nicht sonderlich hilfreich.

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