Diese alte Sehnsucht Roman
Rampe allein hinunterzufahren, und dabei die Kontrolle über den Rollstuhl verloren. Jetzt hing er kopfunter in der Hecke, über ihm der Rollstuhl, dessen Räder sich noch immer drehten. Aber das konnte doch gar nicht sein. Nein, die Räder drehten sich tatsächlich, doch das kam daher, dass Harve, unsichtbar unter dem Rollstuhl, aber anscheinend noch im Sattel, sie wie wild anschob, um sich aus dieser misslichen Lage zu befreien, und offenbar noch nicht gemerkt hatte, dass er in den Zweigen der Hecke zweieinhalb Meter über dem Boden hing.
Griffin kniete nieder, beugte sich vor und streckte den Arm aus, so weit er konnte, doch das Rad, das ihm am nächsten war, blieb knapp außer Reichweite. Von irgendwo hinter und über ihm ertönte ein Schrei. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Dot zurückgekehrt war, in der Erwartung, ihren Mann dort zu finden, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Für eine Frau ihres Alters hatte sie ein erstaunlich durchdringendes Organ. »Nein!«, schrie sie. »Ist er tot ?«
»Harve«, sagte Griffin zu seinem Schwiegervater, »hör auf, an den Rädern zu drehen.« Die Position, in der Harve sich befand, war höchst prekär – er war ein schwerer Mann, und zusätzlich ruhte auf ihm das Gewicht des Rollstuhls –, und Griffin fürchtete, dass ein Ast brechen und ihn aufspießen könnte.
»Rührt … sich … nicht, verdammt!«, grunzte der unsichtbare Harve, der die einmal gewählte Rückzugsstrategie trotz ihrer Untauglichkeit unbeirrt verfolgte.
Griffin hörte jetzt nicht nur Dots Schreie, sondern auch das Rumpeln eiliger Schritte auf der Treppe zur Veranda und dann auf dem oberen Teil der Rampe. »Daddy!«, schrie eine schrille Stimme, die er erst für die Joys hielt, bis er merkte, dass es die von einer ihrer Schwestern war.
Zögernd stand er auf. Der Stuhl war nach wie vor außer Reichweite, und vielleicht war es auch gar nicht so gut, an den Rädern zu ziehen. Besser wäre es – das hätte ihm auch gleich einfallen können –, Harve vom Boden aus zu bergen. Doch der Impuls, über die Kante der Rampe auf die Hecke zu blicken, war übermächtig, das bewies die Menge derer, die sich jetzt an dem zerbrochenen Geländer drängten.
Jared war einer der Ersten. Er kniete nieder und reckte sich nach einem der Räder, konnte es aber ebenfalls nicht erreichen.
»So geht das nicht«, sagte Griffin und legte seinem Schwager eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht können du und Jason und ich ihn von unten herausziehen.«
Für einen Augenblick schien Jared diesen Vorschlag in Erwägung zu ziehen, doch als er sich aufgerichtet hatte, merkte er, wer zu ihm gesprochen hatte, und sein Gesichtsausdruck wechselte in einer Sekunde von Nachdenklichkeit zu Wut. Das wäre schon verwirrend genug gewesen, wenn nicht neben ihm auch noch Jason gestanden und haargenau dasselbe Gesicht gemacht hätte.
Also wirklich , sagte Griffins Mutter. Nun sieh sich einer diese beiden Idioten an.
Es war, als hätten sie sie gehört.
»Du verdammter Schweinehund«, sagte Jason, an dessen Schläfe sich wieder der Wurm wand, und bevor Griffin irgendetwas sagen konnte, knallte eine sich rasch nähernde Faust (Jareds? Jasons?) mit voller Wucht gegen seinen Wangenknochen. Er merkte, dass er von der Rampe abhob und in einer Parabel über die Hecke flog, und spürte auch, dass der Boden sich näherte, doch bevor er aufschlug, hörte er, so schien es ihm jedenfalls, ein lautes Splittern und einen Chor aus Schreien. Was zum …? , dachte er noch, doch weiter kam er nicht.
Dann also gute Nacht , sagte seine Mutter, bevor die Leinwand schwarz wurde.
10
STIEFROMAN
Das Splittern, das Griffin hörte, als er durch die Luft flog, stammte von der Rollstuhlrampe, die unter dem Gewicht von fünfzig wohlgenährten Hochzeitsgästen zusammenbrach. Diejenigen, die am zerbrochenen Geländer gestanden hatten, fielen in die Hecke. Mehrere landeten auf Harve und drückten ihn noch tiefer ins dunkle Geäst, wo er herzzerreißend klagte. Als Joy stürzte, geriet der Mittelfinger ihrer rechten Hand in die Speichen des Rollstuhls und brach wie ein dürrer Zweig. Sie hätte unter den Ersten sein sollen, die ins Krankenhaus gebracht wurden – die Verletzungen der meisten anderen bestanden aus Kratzern und Abschürfungen –, doch sie wollte nicht gehen, solange ihr Vater noch in der Hecke gefangen war. Die übrigen Gäste standen in einem Halbkreis und sahen zu, wie Jason und Jared versuchten, ihn durch Rütteln und Zerren zu
Weitere Kostenlose Bücher