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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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befreien. Die Hecke war jedoch viel zu dicht, und die Zweige schienen von Natur aus so angeordnet, dass ein menschliches Opfer immer weiter in das dunkle Zentrum rutschte. Auch wenn die Zwillinge es nicht gleich merkten, machten ihre Bemühungen alles nur noch schlimmer, denn einige der Zweige brachen ab, und diese neuen Spitzen bohrten sich in Harves Haut und ließen ihn vor Schmerz heulen, bis er heiser wurde und schließlich verstummte. Der Hotelmanager bat um Geduld, bis man den Gärtner aufgetrieben hatte, der anscheinend den einzigen Schlüssel für den Schuppen hatte, in dem die Motorsäge aufbewahrt wurde.
    Eine Zeit lang beachtete niemand Griffin, der bewusstlos unter der Hecke lag, sodass nur seine Füße hervorsahen – vielleicht dachte man auch, er rede mit Harve. Er kam nur langsam wieder zu sich, Schritt für Schritt, wie nach einem langen, angenehmen Schlaf. Ein Sinn nach dem anderen meldete sich zurück, als Erstes der Geruchssinn. Er lag auf dem Rücken auf der Erde, die stark nach dem erst kürzlich aufgebrachten Dünger roch. Seine Augen waren offen, doch es gab nichts zu sehen. Nein, Moment mal, das stimmte nicht. Was er sah, wenn er die Augen etwas zusammenkniff, glich einer Tuschezeichnung, nur dass die feinen Linien nicht stillstanden und in den Zwischenräumen dichter Nebel war. Wellfleet, dachte er. Irgendwie war er zurückgebracht worden in die nebligste Stadt der Welt, wo er die Asche seines Vaters verstreuen musste, und zwar diesmal richtig. Aber er hatte die Asche gar nicht – die war im Kofferraum von Joys Wagen, und sie hatte versprochen, sie ihm zu geben. Dennoch war er ohne sie hier in Wellfleet. Dann kamen schließlich Geräusche hinzu: Sie drangen aus einem rauschenden, knisternden Lautsprecher irgendwo in der Nähe. Stimmen, eine ganze Menge Stimmen, und alle redeten und riefen durcheinander. Warum konnte er nicht sehen, wem sie gehörten? Er war noch dabei, diese komplexe Frage zu klären, als er spürte, dass jemand ihn an den Knöcheln packte und hinaus in die Welt zog.
    Und was für eine Welt! Während der nächsten zehn Minuten stand er da (»schwankte« hätte es wohl besser getroffen) und versuchte, die Situation zu enträtseln, indem er in Gedanken rekapitulierte, was er für wahr hielt, und den, wie er hoffte, harten Fakten erlaubte, wie Gasblasen in einem schlammigen Tümpel in sein taumeliges Bewusstsein aufzusteigen. Er war nicht in Wellfleet, sondern in Maine. Er war mit einer Frau, die nicht seine Ehefrau war, zur Hochzeit seiner Tochter gefahren. Zu derselben Hochzeit war auch seine Ehefrau gekommen, in Begleitung eines Mannes, der nicht ihr Ehemann war. Sein linkes Auge war zugeschwollen, weil er (warum?) von einem seiner Schwäger (welchem?) k.o. geschlagen worden war. Sein Schwiegervater war wie eine Märchenfigur in einem Baum gefangen. Das alles war höchst unwahrscheinlich und doch offenbar wahr. Es handelte sich nicht um eine bloße Meinung – es war keine andere Theorie verfügbar. Er hätte gern mit jemandem darüber gesprochen, aber selbst seine Mutter schien ihn verlassen zu haben.
    Doch nein, er hatte mit jemandem gesprochen, nachdem man ihn unter der Hecke hervorgezogen hatte. Aber mit wem? Und worüber hatten sie gesprochen? Es konnte nicht mehr als fünf Minuten her sein, trotzdem konnte er sich nicht erinnern. Er erwog, zu den anderen dort drüben an der Hecke zu gehen, in der Harve noch immer gefangen war. Joy und Laura waren da, ebenso Andy und Ringo, was ihn selbst über … – wie war das Wort? – unnötig machte. Auch die Zwillinge waren dort, und wenn er sich ungebeten hinzugesellte, würden sie ihn womöglich noch einmal schlagen. Er bezweifelte zwar, dass das wirklich geschehen würde, aber sicher war er sich nicht. Er verstand noch immer nicht, warum sie ihn geschlagen hatten, und es war möglich, dass der Grund, was immer er gewesen war, nach wie vor bestand. Über …?
    Der dichte Wellfleet-Nebel in seinem Kopf lichtete sich allmählich. Er sah eine Frau ganz allein auf einer Bank mit Blick auf das Meer sitzen. Ihr düsteres Gesicht und die trotzig verschränkten Arme deuteten darauf hin, dass sie sich weder für die Hecke noch für die davor versammelte Menge im Mindesten interessierte. Griffin war bewusst, dass er die Frau kennen sollte, und so konzentrierte er sich auf ihre Identität, bis diese sich ihm offenbarte: Sie war Dot, Harves zweite Frau. Er war stolz, sie erkannt zu haben, und wollte herausfinden, wie zusammenhängend er

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