Diese Dinge geschehen nicht einfach so
klein, robust, die gleichen mickrigen Augenbrauen, rundes Gesicht, abgerundete Nase. Die Launen der Gene. Dass von all seinen Kindern ausgerechnet sie diese Merkmale geerbt hat, sie, die am wenigsten Zeit mit ihrem Vater verbringen sollte und die seine charakteristischen Gesichtszüge so hasste. In
sein
Gesicht passten sie. Er sah gut aus, was ja bei einem Mann möglich war, ohne dass er hübsch sein musste. Mit einer Haut wie diese Naa oder wie Olu, so makellos. Ein klares Gesicht. Elegant.
Was bei ihr nicht der Fall war.
Philae bezeichnet sie gern als »natürliche Schönheit«, während Fola Formulierungen verwendet wie »Du wirst schon noch zur Geltung kommen« (in einem Tonfall, der sie an »Wir werden dein verborgenes Talent schon noch entdecken« erinnert). Aber Sadie weiß Bescheid. Sie ist nicht hübsch. Schluss, aus, Ende. Ihre Augen sind zu klein, und ihre Nase ist zu rund, und sie hat keine hohen Wangenknochen wie Taiwo oder Philae, auch keine langen, schlanken Gliedmaßen, kein fein geschnittenes Kinn, keine schmale Taille und kein vorstehendes Schlüsselbein. Sie ist einssechzig, robust, nicht dick, aber gedrungen, blasses Braun, weder groß noch klein, ohne Ecken und Kanten, sie sieht aus wie eine Puppe, aber wie eine Puppe, die sie als Kind nicht hätte haben wollen. Es lohnt sich nicht, Philae das alles zu erklären. Fola übrigens auch nicht. Die beiden würden sie sowieso nicht verstehen. Sie sind
hübsch
, ein Daseinszustand, den sie als selbstverständlich betrachten, weil sie ja nichts dafür können (Laune der Gene). Ihre Empathie ist begrenzt durch die Parameter ihrer Lebenswirklichkeit, das weiß Sadie. Sie können es sich gar nicht vorstellen,
nicht
hübsch zu sein. Ein bisschen ähnlich wie wenn eine Frau sich vorstellt, ein Mann zu sein – sie kann die Augen schließen und sich alles ausmalen – was immer »ein Mann sein« für sie bedeuten mag –, aber eigentlich kann sie sich gar nicht vorstellen,
keine Frau
zu sein, da kann sie auf nichts zurückgreifen, selbst wenn sie sich noch so bemüht. Genauso ist das Bewusstsein, die Vorstellungskraft der hübschen Frau beschränkt, weil sie keine Erfahrung damit hat, wie es ist, nicht gesehen zu werden. Meistens hat Sadie keine große Lust, die Gründe durchzugehen, weshalb die Welt sie nicht wahrnimmt. Das ist ihr alles zu klischiert, zu melodramatisch für ein Mädchen mit ihrem Sarkasmus und ihrem Bildungsniveau. Sie nimmt es hin, dass die Medien an ihrer Bulimie schuld sind und an ihrer stillen, anhaltenden Sehnsucht, als blondes Waisenkind wiedergeboren zu werden; sie kritisiert Photoshop leidenschaftlich als eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit; sie hat ihre Kindheitsvorliebe für weiße Barbiepuppen analysiert und abgelegt – und so weiter. Sie ist nicht dumm. Sie sieht alles ganz klar. Aber die Tatsache bleibt bestehen: Sie ist unsichtbar. Unhübsch.
Das Gefühl, angeschaut zu werden, ist neu und beunruhigend. »H-h-hallo«, stammelt Sadie verlegen, streckt die Hand aus.
Naa nimmt ihre Hand, runzelt die Stirn, drückt die Hand fest. »Ekua«, sagt sie.
»Ahm – ich bin Sadie.« Sadie lächelt, »Ich heiße Sadie. Schön, dass wir uns endlich kennenlernen.«
Aber Naa gibt nicht nach. »Ekua«, wiederholt sie. »Schwester Ekua. Das bist du.«
Sadie lacht jetzt nervös, kommt nicht mit. »Ich bin Sadie. Ekua – das ist mein zweiter Vorname. Ekua.«
Naa nickt. »Willkommen zurück!«
Sadie will erklären, dass sie noch nie in Ghana war, aber Naa wendet sich Olu zu und dann einem nach dem anderen. Eine zweite korpulente Frau in einem Kleid aus dem gleichen schlichten schwarzen Stoff und mit der entsprechenden Kopfbedeckung erscheint, sie bringt ein großes Plastiktablett mit lauter Flaschen: Cola, Fanta, Malta, Bitter Lemon.
Fola versucht es noch einmal: »Guten Tag, Shormeh.«
Diesmal stimmt es.
Die Erfrischungsgetränke werden verteilt, mit verschlossenem Blick und den passenden Höflichkeitsfloskeln. Man stellt sich gegenseitig vor, drückt sein Beileid aus. »Wir haben ein kleines Willkommensmahl vorbereitet«, sagt Shormeh. »Bitte, nehmt doch alle Platz.« Sie zeigt auf die im Kreis stehenden Bänke im Schatten.
Die Sonne hält sich nicht mehr zurück, sie ist hinter den Wolken hervorgekommen, und die Luft drückt die Arme der Gäste nach unten wie eine Hand. Sie sitzen mit ihren Getränken auf den Bänken und schwitzen leise vor sich hin. Eine kleine Versammlung hat sich um sie gebildet, alle wollen
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