Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Angst, die jubelnden Zuschauer anzusehen, sie bewegt sich, sie schwitzt, sie weint (
ich tanze
, denkt sie ungläubig), kann nicht aufhören, der Bauch angespannt, ihre Schenkel brennen, die Augenlider werden schlaff. Hüften kreisen, Schultern bewegen sich auf und ab, im Kreis, Fuß nach außen, Fuß nach innen, sie ist außerhalb ihres Körpers oder tief in ihm drin, sie registriert nichts, weder ihre Umgebung noch ihre Haut noch die Augen noch die Zuschauer, sie spürt nur den Rhythmus, spürt nur die Trommeln.
Klack!
Das Trommeln hört auf. Sadie hört auf. Verschwitzt, atemlos. Die kleine Versammlung hört auf zu klatschen und schaut auf sie. Einen Moment ist alles still, dann Olu: »Auf geht’s, Sadie!« Mit der ganzen Wucht seines Baritons. Die Kinder klatschen und jubeln wieder auf Ga, die rundliche Tänzerin ruft: »
My siiis-ta!«
Die Leute machen Fotos mit ihren Handys. Fola springt von der Bank auf, um Sadie zu umarmen, als hätte sie gerade einen Wettlauf gewonnen. »Mein Gott!«, ruft sie lachend und nimmt Sadies Stirn zwischen beide Hände. »Meine Tochter ist eine Tänzerin,
ehn
?« Küsst ihre Zöpfchen. Sadie wird mit etwas Verspätung plötzlich ganz verlegen, nachdem sie jetzt aufgehört hat, sie spürt die warmen Blicke, erlaubt ihrer Mutter, sie zu umarmen, und ihr Herz hämmert wie verrückt, und es hämmert, unter anderem, vor Freude.
5
Aber als sie Sadie im Moment ihres Triumphs sieht und dass Fola sie umarmt, wie schon auf dem Flughafen (strahlendes-Lächeln-unter-Tränen, Gesicht an die Brust gedrückt, die ganze Nummer), überkommt Taiwo ein ganz schreckliches Gefühl. Wut. Sie bemüht sich schon den ganzen Vormittag, sich an das Drehbuch zu halten, ein ernstes Gesicht zu machen, interessiert zu klingen, sich ohne Klagen den Schweiß abzutupfen – ihr Versuch, sich zivilisiert zu verhalten, was die anderen für eingeschnappt halten, weil sie ja ihr Schweigen, ihre mürrische Stimmung gewohnt sind. Das ist die Rolle, die ihr von Anfang an zugewiesen wird in dem Stück, so wie Olu für Ordnung sorgen und Kehinde alle besänftigen muss und Sadie beim geringsten Anlass in Tränen ausbrechen und ihre Mutter über alles hinwegsehen muss: Taiwo ist schlecht gelaunt. Davon gehen alle aus, das erwarten alle von ihr, und wenn sie damit aufhören würde, würde es ihnen fehlen. Niemand macht sich deswegen Gedanken oder fragt sie, was los ist, ob etwas nicht stimmt.
So ist sie halt
, sagen sie mit ihren Blicken, wenn sie glauben, sie merkt es nicht. Mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Achselzucken.
Inzwischen glaubt sie ja selbst schon, dass sie immer so war, dass sie »ein schwieriges Kind« war und immer schwierig sein wird.
Und dass man sie, wenn sie nur nicht so kompliziert wäre, auch in den Arm nehmen würde,
denkt sie plötzlich, als sie Fola und Sadie beobachtet. Ihre Mutter nimmt sie nie in den Arm, und das tut weh. Wenn ihr etwas fehlt, kommt Fola nicht gleich beim ersten Anzeichen sofort zu ihr gelaufen. Dieses Privileg ist für Sadie reserviert, die viel süßer ist, weinerlich und niedlich wie eine Puppe, wie etwas, das man an sich drückt. Zum Beispiel gestern am Esstisch, als Fola sie nur angestarrt hat, als sie zu weinen anfing. Wäre sie Sadie gewesen, hätte Fola sie umarmt, so wie jetzt, das weiß Taiwo. Aber stattdessen hat sie nur zugeschaut, wie ihre Tochter wegging.
Rasende Wut, aus dem Nichts. Sie schaut ihre Mutter an und spürt, wie die Wut in ihr aufsteigt, quälend und gleichzeitig peinlich, dass das ausgerechnet jetzt passiert, während die anderen lachen und ihre Trauer einen Moment beiseiteschieben, um Sadie zu feiern, kleine Sadie, süße Sadie, saubere Sadie, reine Sadie, niedlich wie ein Baby, das man einfach nur knuddeln will. Aus dem Nichts packt sie eine Wut jenseits aller Vernunft. Ihr Körper beginnt zu zittern und sich ohne Anweisung zu bewegen. Beben, brennen, aufstehen, weggehen. Ohne zu überlegen, ohne ein Wort zu sagen, geht sie. Die anderen merken gar nicht, dass sie verschwindet, sie machen Fotos, die Kinder plappern, die älteren Frauen interessiert es sowieso nicht. Nur Kehinde steht besorgt auf. »Wo gehst du hin?«, murmelt er. Sie antwortet: »Aufs Klo«, und er fragt nicht weiter.
Sie hat nicht die geringste Ahnung, wo sie hingeht. Sie durchquert den Eingang der Siedlung, geht an der Mauer entlang, sieht den Fahrer beim Auto stehen, wechselt die Richtung, aus dem Dorf hinaus, die dunkelrote Sandstraße hinunter. Die Wut treibt sie
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