Diese Dinge geschehen nicht einfach so
sehen, was los ist. Hauptsächlich Kinder. Sie kommen aus den bescheidenen Häusern, in verwaschenen amerikanischen Klamotten, ein wachsames Lächeln auf dem Gesicht.
Mädchen
, registriert Sadie, nachdem sie versucht hat, das Gefühl zu lokalisieren, warum ihr hier irgendetwas fehlt. Es sind lauter Mädchen.
»Wo sind die Jungen?«, fragt sie Fola, die neben ihr sitzt.
Fola antwortet mit einem trockenen Lachen: »Sie sind in der Schule.«
Wie zur Bestätigung stellen sich mehrere Mädchen, in blaue Batik gekleidet, säuberlich zwischen den Häusern und den Bänken auf. Drei Teenager mit großen Trommeln und in Tuniken gekleidet bauen sich neben den Mädchen im Schatten auf. Naa nimmt einen Plastikstuhl und nippt an einer Malta. Shormeh bleibt stehen, die Hand auf Naas Stuhl. Die Mädchen – sechs an der Zahl, die Jüngste etwa acht, die Älteste schon zwölf und mollig – schauen brav zu Shormeh, die ihnen zunickt. Ohne weitere Einleitung beginnt das Trommeln.
Ling fischt ihr Handy aus der Tasche und macht ein Foto. Sadie setzt sich ganz gerade hin, auf alles gefasst. Aber der Klang der Trommeln ist erstaunlich beruhigend, entspannt und ungezwungen, ganz im Gegensatz zu ihr. Sie hat sich noch nie besonders hingezogen gefühlt zu dieser Art von Musik, zu afrikanischen Trommeln, aber sie hat keine Ahnung, wieso eigentlich nicht: Ihre Reaktion jetzt ist sehr körperlich, sie spürt, wie ihr Herz langsamer schlägt oder jedenfalls geordneter, weil es sich dieser neuen Form von Rhythmus unterwirft. Erst da wird ihr bewusst, dass ihr Herz die ganze Zeit gehämmert hat, eigentlich seit sie von Folas Haus aufgebrochen sind, deshalb tut ihr jetzt alles weh, sie ist körperlich erschöpft, als hätte sie Sport gemacht, als wäre sie meilenweit gerannt. Mit den Trommeln wird das Hämmern stärker, aber gleichzeitig ruhiger, ihr Atem löst sich vom Tempo ihrer Gedanken und folgt stattdessen dem sich steigernden Rhythmus, der immer komplexer wird. Ein stellvertretender Herzschlag. Stärker, ruhiger und sicherer.
Warum höre ich nie solche Musik?
, fragte sie sich.
Warum genieße ich sie nie?
Die Musik ist herrlich. Sie übertönt alle Gedanken. Genauso einlullend wie Sitar und Flöte, was sie bei dem Jogakurs, zu dem sie mit Philae geht, immer im Hintergrund spielen. Man wird weggetragen. Einen Moment lang schließt Sadie die Augen, ihr ist schwindelig. Als sie die Augen wieder öffnet, sind die Mädchen näher gekommen, bewegen sich schneller.
Sie bewegen sich in einem Kreis, mit perfekter Präzision. Füße nach außen, Füße nach innen. Hüfte nach außen, Hüfte nach ihnen. Die Trommler wechseln den Takt, und die Mädchen verändern ihre Formation zu einem Halbkreis. Die Jüngste kommt nach vorn. Sie tanzt ein kleines Solo, dann geht sie wieder zurück in die Gruppe. Die Nächste kommt vor. Und so geht es weiter, eine nach der anderen. Andere Dorfbewohner sind gekommen, um die Darbietung zu sehen; sie klatschen für jedes der Mädchen. Die letzte Tänzerin, die Älteste, klein und rundlich, schiebt sich nun mit einem breiten Strahlen nach vorn, zur Freude der Zuschauer.
Sie sieht nicht aus wie eine Tänzerin
, denkt Sadie. Sie hat eine ähnliche Figur wie Sadie selbst. Oder wie Naa: Sie hat Substanz, ist kompakt, keine langen Tänzergliedmaßen, nicht geschmeidig-fließend, sondern eher massiv, dicke Arme, dicke Schenkel, ein hohes Hinterteil, breite Schultern, kleiner Busen, der gleiche robuste Körperbau wie ihrer. Den sie hasst. Es erschreckt sie, dass sie so gnadenlos über eine andere Frau, über diese Tänzerin denken kann, so grausam, aber der Gedanke kommt wieder.
Ich hasse diesen Körper
, denkt sie, während sie dem Mädchen zuschaut,
ich hasse diesen Körper, er ist hässlich. Ich hasse es, wie er aussieht
.
Da.
Ganz einfach.
Dieser Körper ist hässlich
.
Schluss mit dem netten »un-hübsch«, Schluss mit ihrem Gesicht. Es ist der Körper, den sie hasst, wenn sie es sich richtig überlegt. Der Körper ist es, durch den sie sich von den anderen unterscheidet. Es ist viel leichter, dies bei dieser rundlichen Tänzerin zu sehen und es auszusprechen, denkt Sadie, als es über sich selbst zu sagen, wenn sie sich im Spiegel sieht, wenn sie sich hier neben ihren Geschwistern sieht. Ihr Körper ist der Grund, weshalb man sie nicht sehen kann. Sie mustert die Tänzerin mit einer gewissen Traurigkeit, die ihnen beiden gilt, einer Traurigkeit, die durch die Akzeptanz gemildert wird. Sadie bereitet sich auf das
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