Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
Vom Netzwerk:
eigenes Zimmer hatte, obwohl er ihr so gern eins gegeben hätte, seiner ersten Tochter, ein absolutes Rätsel, trotz ihrer Ähnlichkeit mit ihrem Bruder. Ein Mädchenkind. Etwas Neues. Kostbarer irgendwie.
    Mit einem dünnen Schweißfilm über der Oberlippe, von der Hitze in der Miniwohnung.
    Den er abwischte, mit dem Gedanken:
Das ist das Mindeste, was ich für sie tun kann
.
    Für ein Mädchen ohne Zimmer und mit rosaroten Muschelschalenlippen.
    Und wo er dann aufrecht sitzend einschlief, neben ihr.
     
    In Wirklichkeit liebt er Ama, weil sie, wenn sie schläft, aussieht wie Taiwo, als sie noch keine fünf war und schwitzend auf der Couch schlief. Und weil Ama, wenn sie schnarcht, genau wie seine Mutter klingt, als
er
noch keine fünf war und schwitzend auf dem Fußboden schlief. In derselben strohgedeckten Hütte, in der seine Schwester lächelnd sterben würde, auf einer Matte, neben den Matten seiner Geschwister, die um das eine Holzbett herum lagen, in dem seine Mutter süß und laut schnarchte und wild träumte, während ihr Sohn auf die Orte lauschte, zu denen sie sich begab. Sie ging in die Oper und zu Jazz-Riffs und zu Trommlern und zu Kriegsgesängen, zu den fünfziger Jahren, so wie sie in fernen Ländern klangen, jenseits des Strandes, sie träumte laut von Orten aus dem Radio, die er noch nie gesehen hatte und die sie niemals sehen würde. Und dieser Anblick und dieses Geräusch, diese beiden Sinneseindrücke – das Bild seiner Tochter, (a) ein völlig modernes Bild und ein Produkt von
dort
, von Nordamerika, Schnee, Kuh-Produkt, Gedanken an die Zukunft; das Bild seiner Mutter, (b) ein uraltes Bild, ein Produkt von
hier
, Hütte, Hitze, Bast, Westafrika, die ewige Vergangenheit – würden sich sonst nie berühren, ohne Ama.
    Eine Brücke.
    Loyal und einfach und anschmiegsam, die junge Ama, die aus Kokrobité kam und immer noch nach Salz roch (und nach Palmenöl, nach Pink Oil, verdunsteten Nelken), um neben ihm in einer Vorstadt von Accra zu schlafen. Ama, deren Schweiß und deren Schnarchen, wenn sie schläft, viele Meilen überbrücken, Trauer, Atlantik, Himmel, deren weicher Körper eine Brücke ist, auf der er zwischen den Welten hin und her geht. Genau die Brücke, die er gesucht hat, einunddreißig Jahre lang.
     
    Er dachte, als er wegging, er wüsste, wie man eine Brücke baut – indem man triumphierend mit einem Abschluss und einem Sohn im Arm nach Hause zurückkommt, wenn man das in Amerika geborene Baby vor der ghanaischen Großmutter niederlegt, wie einen Kranz vor einem heiligen Schrein, und lächelnd sagt: »Ich habe dir doch versprochen, dass ich zurückkomme.« Und natürlich mit einem kleinen Jungen, einem glücklicheren Moses. Vater und Arzt. Wie versprochen. Ein Erfolg. Diesen Augenblick stellt er sich in Pennsylvania dauernd vor. Wie sein Kameramann das filmen würde, auf ihr Gesicht schwenkend. Geigen. Tränen in Mutters Augen. Verwunderung, Freude, Erstaunen. Die Geschwister, ehrfürchtig. Der Jubel. Trommeln. Tanz, Gelächter und ein großes Festessen. Fisch grillen, eine Ziege schlachten, kleine Funken eines lodernden Feuers, die vor Freude himmelwärts sprühen, in den pechschwarzen Himmel voller Sterne, und das Meer rauscht zufrieden. Das Wiedersehen: eine Brücke. Ihr Glück: der Eckstein.
    So hatte er es geplant.
    Aber so ist es nicht passiert.
    Als er zurückkam, war sie fort.

Zehn
    Der herzzerbrechende Winter, 1975 .
    Eine mickrige Zweizimmerwohnung.
    Eine Ein-Jahres-Ehefrau.
    Die an dem Tisch in der »Küche« saß, das heißt, in der Ecke, wo an der Wand ein Herd und eine Spüle standen, daneben die Badewanne. Er kam in einem Mantel herein. Er hasste diesen speziellen Mantel. Ein dickes, tristes, beigefarbenes Monster aus dem Goodwill-Laden in der Innenstadt. Sie hatte darauf bestanden, dass er ihn kaufte, und verlangte jetzt von ihm, dass er ihn auch anzog. Der Mantel war das wärmste Kleidungsstück, das er besaß, aber er sah arm darin aus.
    Er betrat die Wohnung und sah arm aus. Sie sah phantastisch aus. Sie sah für ihn immer phantastisch aus, auch wenn sie wütend war. Sie trug Hüfthosen mit Schlag und einen Wickelpullover, beides ebenfalls von Goodwill. Dazu einen Schal in den Haaren.
    Nicht irgendeinen Schal, registrierte er, als er genauer hinschaute. Ein buntes
aso-oke
, ein nigerianisches Tuch. Die Nigerianer waren mit ihren
Headwraps
wesentlich künstlerischer als die Ghanaer. »Extravaganter, demonstrativer«, sagten die Ghanaer gern spöttisch. Aber

Weitere Kostenlose Bücher