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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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telefonisch erreichte. Aus Wochen wurden Monate, Sommer, Herbst – ohne Vergebung. Eine Existenz, die sich auflöst. Unwiderruflich.
    Offen, geschlossen.
    Wie hätte er es wissen können? Dass ein Leben, das sie über Jahre hinweg gemeinsam aufgebaut hatten, innerhalb von ein paar Wochen auseinanderbrach? Ein ganzes Leben, eine ganze Welt,
eine ganze Welt
, von ihnen geschaffen. Mahlzeiten, Geschirr, Windeln, Grundbucheinträge, Prüfungen, unausgesprochene Abmachungen, Ansage auf dem Anrufbeantworter: »Hier ist der Anschluss der Familie Sai, wir sind im Moment leider nicht da.« Piep. Und wir werden nie wieder da sein. »Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.« Bis nichts mehr übrig war, nur die Statue der Mutter im Kofferraum des Volvo und das Gemälde, zweimal Kunst. Öl auf Leinwand. Kehinde Sai, 1993 . Vom Künstler signiert.
Die Größere
.
     
    Er lacht.
    Er macht einen Schritt vorwärts, stolpert, fällt. Er landet auf dem Bauch, sein Gesicht im Tau.
Warum habe ich dich verlassen
? Die Brücke in einer Schleife, wie bei diesem lauwarmen R & B, den Taiwo immer gehört hat, wenn sie schmollte. (Um ein gebrochenes Herz zu heilen, taugte nur Coltrane auf Vinyl. Coltrane hätte sie geheilt. Er hätte es ihr gesagt, wenn sie ihn gefragt hätte.) Aber es ist zu früh, um zu sterben. Also hebt er den Kopf.
Nicht heute
, denkt er, lachend. Spöttisch, kurzatmig. Er hat Coltrane, er hat Heparin. Er hat keinen Grund zur Sorge. Jeden Tag joggen. Ama jede Nacht. Nie geraucht. Sein Herz ist stark. Aber es ist nicht stark, und er weiß es. An vier Stellen ist es gebrochen. Nur Risse am Anfang, seit Jahren unbehandelt. Seine Mutter in Kokrobité, Olu in Boston, Kofi in Jamestown, Folosadé in – überall. Diese Frau, überall in ihm, tief im Bindegewebe, in den Muskeln, den Zellen, in der Substanz, im Blut. Er stirbt an gebrochenem Herzen. Da kann er doch nur lachen! Oder es jedenfalls versuchen. Vor Schmerzen krallt er sich ins Gras, rollt auf die Seite, bekommt keine Luft, blickt sich um. Ist da etwas, woran er sich hochziehen kann? Die Bougainvillea, der Schmetterling, der Mango.
    Und da – da ist sie.
    Endlich.
    Im Brunnen.
    Was für ein alberner Ort. Aber andererseits nicht weiter überraschend bei einer Träumerin. Oder bei zweien. Sie stehen (schweben) im Brunnen, mit weißen Blüten in den Haaren, in funkelnde Spitze gehüllt, weiße
bubas
, mit Diamanten besetzt, Gold, Schnee auf den Schultern und Lücken zwischen den Zähnen, beide, die eine mit dem Radio, die andere mit der Kamera. Er sieht das alles und muss lachen. Gehört die seinem unsichtbaren Kameramann? Wie hat sie ihm die entrissen? Lachend ringt er nach Luft. Sie lacht jetzt auch. Das Radio spielt leise.
Sentimental Mood
, in der Tat.
    Sie legt die Kamera weg, die sofort in Rauch aufgeht.
    »Ich liebe dich«, sagt er.
    »Ich weiß, ich weiß, ich weiß.«
    »Es tut weh«, sagt er.
    Seine Mutter sagt: »Ruh dich aus.«
    Fola sagt: »Ja.«
    Also bleibt er im Gras liegen. »Liebesgras« heißt es, ausgerechnet, du blöder Mann.
     
    Er denkt nicht, was er dachte, dass er denken würde. Dass er sich nicht verabschiedet hat oder dass alles so schnell vorbeigeht. Er denkt auch nicht, er hätte Olu die Treppe hinab jagen sollen, als er kam, oder er hätte miterleben sollen, wie Sadie aufwuchs, oder er hätte nie wegfahren sollen. Er denkt, dass er sich geirrt hat, als er dachte, dass man das alles ruhig vergessen kann. Was nicht heißt, dass man
ihn
nicht vergessen wird – man wird ihn vergessen, er ist schon vergessen. Der Irrtum war, zu glauben, die Details seien unbedeutend. Das, worauf es letztlich hinausläuft. Es gibt ein Detail, bei dem es sich unbedingt lohnt, sich daran zu erinnern.
    Dass er sie gefunden hat.
    Folasadé Savage, auf der Flucht vor einem Krieg. Kweku Sai, der vor einem Frieden flieht, welcher den Tod bringen kann. Zwei Boote, die auf dem Meer herumirren und in Pennsylvania (»Pennsy-wasweißich«) ans Ufer getrieben werden, ausgerechnet. Halb tot vor Kälte, lebendig, verliebt. Waisenkinder, Flüchtlinge, frei schwebend in der Weltgeschichte, beide aus Ländern, die im achtzehnten Jahrhundert das letzte Mal groß gewesen sind – aber voller Stolz (tapfer, hoffnungsvoll), erfüllt und ohne einen Cent. Verzweifelt auf der Suche nach einem Zuhause und nach Abenteuern. Beides werden sie finden. Beieinander werden sie beides finden, weil sie beides
für
einander sind. Die Abende, an denen sie sich mit warmem Schweppes in billigen

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