Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Sektgläsern zuprosten oder sich im Mondschein in der Badewanne lieben oder lachen, bis ihnen die Tränen kommen. Dass er gefunden hat, was er nie zu suchen gewagt hätte. Während es doch genügt hätte, einfach nur den Fluchtweg zu finden, da anzufangen, wo er anfing, und dorthin zu gelangen, wohin er gelangt war – Vater und Arzt und was er sonst noch alles war, was er zu sein
gewagt
hatte. Zu entkommen hätte genügt. »Frei« zu sein, für alle, die schwülstige Streichermusik wollen, »menschlich« zu sein – mehr als nur »Staatsbürger«, mehr als nur »arm«. Letztlich war das alles, wonach er strebte: eine menschliche Geschichte. Die Möglichkeit, Kweku zu sein, jenseits von Armut. Er wollte irgendwie seine eigene kleine Geschichte aus den größeren Geschichten herauslösen, den Geschichten von Vaterland, Armut und Krieg, die sämtliche Geschichten der Menschen in seiner Umgebung verschlungen hatten, um diese Menschen dann als gesichtslose, namenlose Dorfbewohner wieder auszuspucken, als mickrige Rädchen im Getriebe. Die Möglichkeit, sich zu lösen und zu fliehen, auf dem winzigen Boot, der S. S. Sai, vor sich als Ziel die enorme Weite – und die Kleinheit – eines Lebens ohne Not. Die minimalen Triumphe und Niederlagen des Ichs (Beruf, Familie) und nicht die des Staates (zermürbende Arbeit, Bürgerkrieg) –
ja, das hätte vollkommen genüg
t, denkt Kweku. Geboren im Staub, tot im Gras. Fortschritt. Ferne Ufer erreicht.
Dass hinter »frei« noch »geliebt« lag, in ihrem Lachen, dass in ihrer Berührung, in der weichen Fülle ihres Afro »Zuhause« lag – er kann es kaum fassen. Er hätte nie gewagt, davon zu träumen, weil er glaubte, solche Ziele seien für ihn utopisch, wie überhaupt für sie alle, die schuhlos herumliefen, die im Tod lächelten und die in ihren Träumen sangen und nie wichtig waren. Dass er sie gefunden, sie geliebt hat und dass diese Liebe sich viermal in neues Leben verwandelte – das ist wichtig, wenn auch nur für ihn. Das verleiht der Geschichte ihre Bedeutung. Dass das Mädchen den Jungen traf. Und ihn liebte.
Auch wenn er sie am Schluss verloren hat.
Also erhebt er sich langsam, er will sie im Brunnen küssen, sie nicht nur mit den Augen festhalten oder von ihr gehalten werden, sondern sie in den Armen halten. Jedenfalls versucht er aufzustehen. Er schafft es bis zu einer Art Liegestütze, dann versagen seine Herzklappen.
Und dann der Tod.
Er liegt da, mit dem Gesicht nach unten, ein Lächeln auf den Lippen. Jetzt lässt sich der Schmetterling nieder, hat genug getrunken. Ein spektakulärer Kontrast, das Türkis vor dem Pink der Blumen. Aber Schönheit, Kontrast, Abschied sind dem Schmetterling gleichgültig – er flattert durch den Garten, schwebt über Kwekus Fuß. Schlägt mit den Flügeln gegen seine Fußsohlen, als wollte er sie streicheln. Auf, zu. Der Hund wittert neuen Tod und bellt, was wiederum den Schmetterling erschreckt. Noch einmal schlägt er mit den Flügeln, fliegt davon.
Schweigen
II Aufruhr
Eins
Fola erwacht an dem Sonntag bei Sonnenaufgang, atemlos, verschwitzt, ein Traum vom Ertrinken, von einem Rauschen wie Meereswellen. Dunkel, die Vorhänge geschlossen, stickige Luft, das feuchte Bett ein Ozean. Noch im Halbschlaf, die Augen blind, fährt sie schreiend hoch. Aber ihr »Kweku!« bleibt tonlos, zwei Blasen im Wasser, und das Wasser rinnt jetzt, da ihre Lippen leicht geöffnet sind, ihre Kehle hinunter, wo es in ihrem Inneren mehr Wasser findet, in ihrem Bauch, und dann weiter hinunter, zu den Schenkeln, triefend vor Nässe – das früher mal weiße Satin-Nachthemd, nass von innen und von außen, eine zweite Haut, jetzt braun vom Schweiß – und aus dem Wasser wird eine Flut, die Flut wechselt die Richtung, fließt in der Mitte aufwärts, Schenkel, Bauch, Herz, immer höher, und bricht dann durch ihre Brust.
Sie schluchzt so laut, dass sie vollends aufwacht. Sie öffnet die Augen, und das Wasser fließt heraus. Ein hemmungsloses Weinen, und dann schwillt die Flut plötzlich wieder ab und hinterlässt nicht die geringste Spur des Traums (so wie Wellen die Schrift im Sand auslöschen, wenn sie ohne Warnung kommen und verwischen, was Kinder und Liebende geschrieben haben). Nur die Angst bleibt, undeutlich, losgelöst von der dazugehörigen Geschichte, sie bleibt wie der feine, glitzernde Schaum auf feuchtem Sand; und das Rauschen: ein lautes Getöse in der schwülen Dunkelheit, die kaputte
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