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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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Klimaanlage macht genauso viel Lärm wie eine, die funktioniert.
    Glitzernder Schaum und Rauschen.
    Sie richtet sich auf, desorientiert, unfähig, etwas zu sehen, wegen der geschlossenen senffarbenen Vorhänge, also sitzt sie einfach nur verwirrt da, ohne zu begreifen, was gerade passiert ist und warum sie geweint hat oder warum sie einfach aufgehört hat. Die üblichen Fragen: Wie spät ist es? Wo ist sie?
In Ghana
, antwortet etwas, der Bülbül da draußen, und die sogenannten »Pfeffervögel« stimmen verwirrt ein in das Spektakel, eine Ode darauf, dass man kaputte Dinge vergessen soll. Also nicht mehr Nacht, sondern Pfeffervögel, ein Morgen in Ghana, wohin sie gezogen ist. Oder geflohen ist.
    Wieder.
    Ohne Fanfaren oder Plan, so wie Herden sich bewegen oder Soldaten, dem Instinkt folgend, ohne Gepäck, Aufbruch beim ersten Morgenlicht:
    fand den Brief an einem Montag, morgens, in Boston, als sie in der Küche die Post sortierte (Kaffee, WBUR »ein Radiosender, unterstützt und finanziert von seinen Hörern«), Rechnungen für Schulgebühren, Nebenkosten. Ein Umschlag fiel auf den Boden. Oder besser gesagt: schwebte zu Boden. Pastellblau, dünn, eine Feder, die leise zwischen den dicken Montags-Katalogen herausglitt. Ein echter Brief. Und da lag er dann. Im weißen Licht des Winters, dieses billige Luftpostpapier, das kein Mensch mehr verwendete.
    Sie machte ihn auf. Las ihn. Zweimal. Legte ihn auf die Arbeitsplatte. Ließ ihn dort liegen und ging in den Blumenladen. Kam in der Dunkelheit zurück in die Leere, nahm ihn wieder in die Hand. Las noch einmal, dass Sena Wosornu, Ersatzvater, gestorben sei. Dass er tot war und ihr, »Miss« Folasadé Savage, in West Airport, Accra, ein Haus mit drei Schlafzimmern hinterlassen hatte. Sie stand, gelähmt, in ihrem Mantel am Tisch in der Küche, in der Stille. Weiche silberschwarze Dunkelheit, die Kacheln eisig im Mondlicht. Montagabend. Flug am Freitag, JFK nach Kotoka. Non-stop. Ohne Fanfaren. Packte einfach alles zusammen und ging.
     
    Jetzt späht sie mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit und betrachtet das Schlafzimmer, völlig unbekannt, nach sechs Wochen, immer noch. Unbekannte Formen, Schatten. Und der leere Platz hier neben ihr, völlig unbekannt, nach sechzehn Jahren, immer noch.
    Sie tastet ihr Nachthemd ab und erschrickt, weil es so feucht ist. Sie zieht den durchnässten Satin von ihrer Haut weg. Sie berührt ihren Bauch, so wie sie das immer tut, wenn dies passiert: wenn die Angst irgendwo schwebt und noch nicht ihr Gesicht zeigt, wenn etwas nicht stimmt, wenn sie noch nicht weiß, was los ist und mit welchem ihrer Sprösslinge, die von dort gekommen sind. Und der Bauch antwortet, immer (vielleicht eher der »Schoß«, aber das Wort klingt schon immer absurd in ihren Ohren,
Schoß
. Ein
Schoß
. Etwas Höhlenartiges, Mysteriöses, ein Kellergewölbe. Ein Wort mit einem Schatten, einem Luftzug. Sie berührt ihren Bauch an vier verschiedenen Stellen, die Quadranten ihres Torso zwischen Hüfte und Brust: zuerst oben rechts (Olu), unter ihrer rechten Brust, dann unten rechts (Taiwo), wo sie die kleine Narbe hat, dann unten links (Kehinde), neben Taiwo, dann oben links (Sadie), das Baby, ihr Herz. An jeder der vier Stellen hält sie kurz inne, um das Gefühl unter ihrer Handfläche auszuloten, Bewegung oder Ruhe. Und das spürt sie:
    Olu – alles ruhig. Die Traurigkeit, wie immer, so sanft und beharrlich wie das Surren eines Ventilators. Taiwo – die Spannung. Ein leichtes Ziehen. Aber kein Gefühl von Gefahr, kein Grund zur Unruhe. Kehinde – die Abwesenheit, die hallende Abwesenheit, die dadurch erträglich wird, dass
wenn
, dann wüsste sie es (so wie sie es wusste, als es passierte, wie sie es gleich in dem Augenblick wusste, als sie hellblaue Hydrangea an der Theke im Laden schnitt und plötzlich eine Art Attacke spürte, unten links – sie rief: »Kehinde!«, das Messer glitt zur Seite und schnitt ihr in die Hand. Blut tropfte auf die Theke, auf die Stiele und die Blüten, auf das Telefon, sie wählte, wusste schon, welche Nummer, dann die Mailbox »Das ist Kehin –«, Anklopfsignal, ein Klicken, panisches Schluchzen: »Mom, ich bin’s, Taiwo, es ist etwas passiert.« »Ja, ich weiß.« Sie wusste es, genau wie Taiwo, in dem Moment, als es geschah, als die Klinge durch die Haut schnitt, durch das erste Handgelenk. Jetzt, ein Jahr später – nein, mehr, fast zwei Jahre später – ist sie sich sicher, obwohl sie ihn weder gesehen

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