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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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Stich gelassen worden war? Die, nachdem sie schon zweimal ein Leben zurückgelassen hatte, einfach das Gleiche noch einmal tat? Oder lag es an ihm, weil er nichts gepackt hatte und in seiner Verzweiflung einfach weggefahren war, zu erschöpft, um alles zu erklären, zu erschöpft, um auch nur zu denken, um an andere Krankenhäuser zu denken, an einen neuen Anfang, an die Möglichkeit, in einem anderen Bundesstaat einen Job zu finden, vernünftig zu sein, verantwortungsbewusst zu sein, ein Vater zu sein, Vergebung zu finden?
    So war’s. Ausschlaggebend war dieser kurze Moment: warten, schauen, einen Augenblick lang (einen), dann die Einfahrt hinunter, im Rückwärtsgang. Was wäre passiert, wenn Fola ans Fenster gekommen wäre und den Volvo gesehen hätte? Wenn Kehinde ein winziges Geräusch von sich gegeben hätte, als er ins Haus ging? Wenn
er selbst
es sich noch einmal anders überlegt hätte, wenn er irgendwie wieder zur Vernunft gekommen wäre oder überhaupt eine Sekunde nachgedacht hätte? Wenn er ausgestiegen, ins Haus gegangen wäre? In seinem OP -Kittel, gebückt und gebrochen, aber im Haus, im Vorraum, den Flur entlang, in die Küche, in der es nach Ingwer und Öl roch? Stattdessen lastet die Frage jeden Morgen bei Sonnenaufgang auf ihm, begrüßt ihn, wie ein warmer, schwerer Körper, sobald er die Augen aufschlägt:
Was wäre wenn?
Er weiß es nicht. Er denkt jetzt daran und kann es gar nicht begreifen. Dass er sie verloren hat. Dass er sie verlassen hat. Dass sie ihn verlassen hat.
    Und wie.
    Tage: dumpf, kaum schlafen, kaum denken, die Angst, daheim anzurufen, zu groß, Reis essen, Schande trinken, wieder beim Goodwill am Broadway, um einen Anzug für einen Termin am Hopkins Hospital zu kaufen (keine Stellen frei), Johnnie Walker, »Kind of Blue«. Wochen: verschwimmen. Sechs, acht Wochen, dann zehn. Bis er eines Tages um Mitternacht einfach zurück nach Hause fährt. Es fängt gerade an zu schneien, so wie es in Boston immer anfängt, harmlos, träge, leicht, ein Blizzard am Abend, aber zuerst nur ein sanfter Wirbel, blasse Flocken, die in der rosaroten Winterdämmerung flattern. Furcht in den Fingerspitzen, ein Zucken im Magen, aber fest davon überzeugt, dass er sein Verhalten begründen kann, er wird alles gestehen, alles erklären, seine Kinder um Verzeihung bitten, ihr Vertrauen zurückgewinnen, Fola wieder auf seine Seite bringen. Stattdessen kommt er um sieben Uhr morgens an, ein ZU VERKAUFEN -Schild vor dem Haus, und die Statue hinter dem Haus, die er, ohne lang zu überlegen, mitnimmt, bevor er zum Blumenladen rast (verrammelt), dann zur Schule (Kinder abgemeldet). In Panik und inzwischen verschwitzt rast er zur Milton Academy, sucht verzweifelt den Direktor, um nach seinem Sohn zu fragen, und irgendwie trifft er zufällig auf Olu, er trägt diesen Mantel, diesen beigefarbenen Mantel und einen L. L. Bean-Rucksack auf dem Rücken. Bevor einer von ihnen ein Wort herausbringt, klingelt es schrill, ein Stahlmesser, das einen sauberen Schnitt zwischen Vater und Sohn setzt, beide verlegen und verloren in dem plötzlichen Gewimmel, lauter Schüler, die nach draußen strömen, um den Schnee zu bejubeln. Olu spricht klinisch distanziert, beschreibt eine Patientin. »Sie weint jeden Morgen. Sie denkt, ich merke es nicht. Sie sagt, du bist einfach abgehauen und hast uns verlassen, ohne einen Cent auf der Bank. Die Zwillinge sind in Lagos. Das Baby ist noch hier.«
    »Wo ist deine Mutter?«
    »Sie will dich nicht sehen.«
    »Schau mich an, wenn du mit mir redest.«
    »Ich will dich auch nicht sehen.« Olu senkt den Blick, zerrt an den Gurten seines Rucksacks. Scharrt auf dem Boden. Wieder klingelt es. »Ich muss los.« Geht weg.
     
    So löste sich alles auf.
    Wie Dinge von Klippen stürzen. Wie Irene, sein erster Herzstillstand, der erste Patient, den er verlor, bei Sonnenuntergang lachend eingeliefert, tot vor der Morgendämmerung. Das irrsinnige Tempo des Todes. (Oder war es umgekehrt? Das irrsinnige Tempo des Lebens?) Er ist Arzt, er hätte es wissen müssen, der Körper verfällt, nichts bleibt für immer, das Leben nicht, warum sollte dann eine Liebe bleiben, er weiß, was Verlust bedeutet und was wem widerfährt, in welchem Ausmaß, »Veränderung ist die einzige Konstante« und so weiter. Trotzdem – wer hätte das gedacht? Dass sie fliehen würde und sich weigern, ihn zu sehen, dass sie ein Wiedersehen mit den Kindern verhindern und ihm nicht sagen würde, wo sie waren, als er sie endlich

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