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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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alle getötet, die Villa in Brand gesteckt, sämtliche Ausgänge mit Steinen verbarrikadiert – aber in ihrem Kopf verfestigten sich diese Einzelheiten niemals zu Bildern. Deshalb glaubte sie es nie so ganz, nie wirklich, konnte es nicht
sehen
, sie ließ nie einen klaren Eindruck entstehen, wodurch es konkret geworden wäre und die Wörter Kraft bekommen hätten (Rauchgeruch, brennendes Holz) und die Leichen ein Gesicht. Die Wörter blieben nur ein Knochengerüst. Sie waren niemand, die »Soldaten«. Sie waren Schattenwesen, keine Menschen. Die »Nwaneris« blieben, was sie schon immer gewesen waren: ein Porträt an der Wand, ein Name. Eine blasse Gruppe von Personen, nicht einmal richtige Figuren, sondern Kategorien: Zivilist, Soldat, Hausa, Igbo, Täter, Opfer. Zu vage, um wahr zu sein.
    Und nicht er.
    Er war es, er war zweifellos dort (obwohl man es nie bestätigen konnte, sein Körper war zu Asche verbrannt; im REM -Schlaf träumend, sein »Fola!« zwei Blasen), als die blindwütigen Anti-Ibo-Pogrome den Krieg auslösten. Aber sie konnte ihn einfach nicht sehen, nicht ihren Vater, so wie sie ihn kannte, wie sie ihn gesehen hatte, als sie am Tisch saß und er aus ihrem Blickfeld wippte, wippte. Es war jemand anderes, den sie in der Nacht getötet hatten, diese »Soldaten«, die sie nicht sehen konnte, dieses »Opfer«, das sie nicht kannten, anonym wie alle Opfer.
    Die Gleichgültigkeit des Ganzen.
    Das
war das Problem und sollte auch immer das Problem bleiben, es war das Hindernis, über das, wie sie manchmal denkt, ihr ganzes Dasein stolperte – dass er so unspezifisch wurde (und dadurch auch sie). Bis zu dem Moment war ihr Leben so echt gewesen, eine bunte Geschichte mit einer reichen Gruppe von Charakteren – sie: die mutterlose Prinzessin eines vertikalen Palastes, ihres vierstöckigen Apartments in Victoria Island; die anderen: temperamentvolle, glamouröse Freunde ihres Vaters, Personal; er: der verwitwete König im Schloss. Wäre er einen Tod gestorben, der ihrem Leben, so wie sie es kannte, entsprochen hätte – bei einem Autounfall, zum Beispiel, in seinem geliebten Deux Chevaux, oder an Leberkrebs, Lungenkrebs, weil er zum Schluss Caos rauchte und Rum hinunterkippte –, dann wäre sie mit dem Verlust fertiggeworden. Sie hätte getrauert. Hätte als Waise in einem vierstöckigen Apartment gelebt, eine Waise, die mit dreizehn Jahren schon beide Eltern verloren hat, aber sie hätte etwas verloren, das sie kannte (tragisch). Stattdessen war sie etwas anderes geworden: ein Teil der Geschichte.
    Generisch.
    Sie spürte die Veränderung sofort, merkte sie an dem Tonfall, in dem die Leute redeten, wenn sie hörten, dass ihr Vater von Soldaten umgebracht worden war, an der Art, wie sie nickten, als wollten sie sagen, ja,
logisch, der Beginn des nigerianischen Bürgerkriegs, ja, klar
. Egal, dass die Hausas es auf Igbos abgesehen hatten und dass ihr Vater ein Yoruba war und ihre Großmutter Schottin und das Hauspersonal Fulani, manche sogar Inder. Zehn Tote, nur einer ein Igbo, nebensächliche Details, unwichtig. Sie spürte es in Amerika, als sie nach Pennsylvania kam (nachdem sie vorher von dem freundlichen Sena Wosornu nach Ghana gebracht worden war), dass ihre Mitstudenten und Professoren – weiß oder schwarz, das spielte keine Rolle – irgendwie glaubten, was da passiert war, sei natürlich, irgendwie tragisch – grauenvoll, aber natürlich. Sie hatte aufgehört, Folasadé Somayina Savage zu sein, und war stattdessen ein Mitglied einer generischen Kriegsnation geworden. Ohne spezifische Kennzeichen. Ohne den Geruch von Rum, ohne die Beatles-Poster oder eine Kente-Decke auf einem breiten Bett, ohne Porträts. Einfach nur irgendeine kriegsgeschundene Nation, hoffnungslos und unmenschlich wie jede Nation im Krieg irgendwo, wie alle Kriegsnationen überall. »Das tut mir leid«, sagten die anderen und nickten bedächtig, so wie man sagt
Das tut mir leid
, wenn alte Menschen sterben, »das ist wirklich schlimm« (aber dann auch wieder nicht
so
schlimm, eher
so ist das eben
auf dieser Welt), in ihren Augen keine Spur von Überraschung. Wurden nicht ständig breitschultrige Väter mit wolligen Haaren, Väter von Leuten, die aus heißen, Krieg führenden Ländern stammten, getötet?
    Wie war das passiert?
    Sie sehnte sich nicht nach Lagos, nach dem Luxus, dem Glamour, dem Gefühl, wohlhabend zu sein – sie sehnte sich nach dem Gefühl für sich selbst, als sie sich einfach der Sinnlosigkeit der

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