Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Aber stattdessen hört er Fola, ihre Stimme ist ausdruckslos und weit weg, miese Verbindung. »Dein Vater ist tot« und die paar Dinge, die sie sonst noch gesagt hat, die Pause danach, die Stille zwischen gehört und verstanden, vor dem Schmerz.
Er hat ihr alle Fragen gestellt und alle Einzelheit erfahren – »mit dem Gesicht nach unten«, »im Gras«. »Benson hat ihn gefunden«, »genau so«, »anscheinend ist er nach draußen gegangen und gestürzt und konnte nicht aufstehen«, »um sechs Uhr morgens« –, aber sie hatte keine Antworten. Sie weinte. Er legte den Milchschäumer weg, tropfte Sojamilch auf den Tisch. Schaute sich im Mitarbeiter-Aufenthaltsraum um, der um diese Zeit sehr voll war. Assistenzärzte aus der Notaufnahme, zugekokst, mit Red Bull und Kaffee abgefüllt, die Augen trübe und blutunterlaufen vor Angst und Erschöpfung. Ein paar Tage vor Weihnachten, frühe Morgenstunden, Sonntagmorgen, die Probleme des Samstags wurden bei ihnen an der Tür abgeladen: erbitterte Kneipenschlägereien, Selbstmordversuche, Unfälle vor dem Schneesturm, Unterkühlung bei den Obdachlosen. Er wollte nicht nach Hause. (Das ist es, was ihm jetzt fehlt, bei seinem zweiten Jahr in der Orthopädie: dass man durch seine Schicht braust, high durch Energy drinks und Tatendrang. Die Orthopädie bedeutet dagegen Intensität nach Termin: gestürzte Opas, gestürzte Footballspieler, verfahrenstechnisch, gut bezahlt. Er hat sich für diese Spezialisierung aus eben diesen Gründen entschieden, die Eingriffe, das Körperliche, die Präzision. Heimweh nach dem Sportplatz. Aber er vermisst die Hektik der Notaufnahme, die Verzweiflung, die Chancen und die lauernde Gegenwart des Todes.)
Fola: »Bist du noch da?«
»Ja.«
»Könntest du bitte deine Geschwister anrufen? Ihnen sagen, dass …«
»Ja.«
»Das macht dir nichts aus? Ist alles okay?«
»Ja.«
»Ich muss mich jetzt erst mal kurz ausruhen. Das war ein langer Vormittag. Ich hab dich lieb, mein Schatz, das weißt du.«
»Ja, ich weiß es.«
Er sitzt in seinem OP -Kittel und mit dem roten T-Shirt in der Dunkelheit. Das Mondlicht lässt auf dem Fußboden und an den Wänden Eis entstehen. Er denkt: Vielleicht hat sie ja recht, vielleicht ist dieses ganze Weiß erdrückend, stumpf; ein Schlafzimmer sollte kein Operationssaal sein. Wenn die Sonne scheint, ist es sehr schön, die harten Winkel werden noch härter, weil das Licht hell mit seinem eigenen Schatten zusammenstößt, was einen unheimlichen Effekt hat, weiß auf weiß, wie ein Echo. Die Sonne starrt auf ihr eigenes Spiegelbild, ihren eigenen Abglanz. Jetzt nicht. Jetzt ist es einsam und kalt in der Dunkelheit, die keine richtige Dunkelheit ist, ein kaltes und dunkles Licht. Während der Schnee draußen vor dem Fenster auf sich selbst fällt, so lautlos wie hoffnungslos, noch mehr Weiß auf Weiß.
Er sieht, wie sich ihre Brust hebt und senkt. Sie bewegt sich im Schlaf, hierhin, dahin, wie sie das immer macht, sie wälzt sich, dreht sich. Er nimmt noch einmal Anlauf, »L…«, aber das »ing« bleibt ihm in der Kehle stecken, vor Scham. Ausgerechnet. Nicht vor Schmerz oder Trauer oder vor Tränen, sondern vor Scham. Er fühlt diese Scham, die sich wie Wärme in seinem Hals ausbreitet und dann weiter hinunter zu seiner Brust, seinem Bauch, bis zur Leistenbeuge, dort macht sie halt, sammelt neue Kräfte und breitet sich aus bis zu den Knien. Ausgerechnet.
Warme Knie
, während er in der Nichtdunkelheit sitzt, Lings T-Shirt an sich gedrückt, an den Mund gepresst, wie ein Taubstummer. Und warum? Warum hat er dieses wachsweiche Gefühl, das ihn so schwach macht, dass er nicht aufstehen und nicht sprechen kann, und das sich jetzt in ein Brennen verwandelt, ein grimmiges, aggressives Brennen, so ätzend, dass er sich zusammenkrümmt und »H –!« ruft?
Das T-Shirt dreht den Ruf um, die rote Baumwollkugel, an seine Lippen gedrückt, erstickt Zorn und Scham. Also geht der Ausbruch nach innen, zurück durch die Kehle in den Bauch, und landet dort mit einem einzigen atemlosen »– au.«
Wie
lautet die entscheidende Frage (wie stirbt ein außergewöhnlicher Chirurg einfach so in einem Garten an Herzversagen?)
Wie
, wenn er, Olu, sich schon sein ganzes Leben lang bemüht, so zu sein wie er, und ihm alle Sünden vergeben hat, im Namen der Begabung? Immer schon bewundert er seine Genialität und redet von seinen Fähigkeiten – ein Chirurg, der seinesgleichen sucht, an den man sich bis heute erinnert. »Sai,
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