Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Blackberry weg, fängt an zu weinen. Fünf kurze Schluchzer, Paukenschläge –
dein-Va-ter-ist-tot
–, dann wischt er sich das Gesicht ab, schließt die Augen. Schneeflocken fallen, landen auf seiner Nase und auf seinem Mund. Es ist ein Uhr nachts, null Grad.
»Entschuldigung.«
Er öffnet die Augen und sieht vor sich eine ältere Frau, keine einsfünfzig, Pelzmantel. Sie ist gerade durch den Behindertenausgang gekommen und neben Olu auf dem Gehweg stehengeblieben. In der eigenartigen Stille, die zum Vorprogramm eines nächtlichen Unwetters gehört, stehen sie nebeneinander und sehen zu, wie der Schnee erst durch die schwarze Dunkelheit und dann durch das helle Krankenhausschild wirbelt.
Sie deutet auf die Lobby mit der Glastür hinter ihnen, dann fasst sie ihn an, zwinkert ihm zu und sagt ganz schnell: »Ich weiß, ich hätte bei den Kindern bleiben sollen. Na ja. Bei den
Kindern
. Lieber Gott. Vierzig Jahre ist er alt, unser Jüngster.
Mein
Jüngster. Zwei Jungen. Brett und Junior. Bruce Junior, wie mein Mann. Er hat schon immer eine Begabung für gutes Timing, mein Bruce. 12 : 21 nachts, am einundzwanzigsten Dezember, also wieder 12 : 21 , Todeszeitpunkt. Erstklassig, stimmt’s? Jawohl, Sir. Ich finde es so toll, wenn es nachts anfängt zu schneien. Es geht nur leider immer so schnell vorbei. Wen haben Sie verloren?«
» … Arzt«, sagt er, seine Stimme verweigert das
Ich bin
. »Ich bin Arzt.«
»Das sehe ich an Ihrer Kleidung«, sagt sie. »Aber ich hatte das Gefühl, dass Sie nicht hier stehen, weil Sie um einen Patienten trauern.« Nach einer kurzen Pause fängt sie an zu lachen, und er lacht auch. Atemwolken. Sie holt eine in ein Taschentuch gewickelte Cohiba Esplendido hervor. Ein kleines silbernes Feuerzeug. Es sprüht Funken, die Flamme geht aus. Olu legt schützend die Hand um das Feuerzeug, mit zitternden Fingern. »Ihre Hand zittert«, sagt die Frau.
»Ist ja auch ziemlich kalt.« Er sagt immer so alberne Sachen, wenn er nervös ist. Sätze ohne Subjekt.
»Und dann in diesem …« sie fasst ihn an, »… in diesem Baumwollpyjama? Sie wissen doch, wir stehen hier draußen in einem Blizzard, mein Lieber. Jawohl, Sir. Sieht noch nicht schlimm aus, aber das ist am Anfang immer so – warten Sie nur, bis die Sonne aufgeht. Nicht hier. Warten Sie nicht hier. Sie holen sich den Tod – ach, du liebe Güte. Hab ich das wirklich gesagt? So was sagt man nicht in dieser Umgebung. Hier, nehmen Sie.«
»Nein. Ich bin …«
»Arzt. Das sagten Sie bereits.«
»Ich …«
»Nehmen Sie. Ich habe meinem Bruce versprochen, dass ich sie für ihn rauche, falls er stirbt,
wenn
er stirbt – so wie er’s gemacht hat, als unsere Kinder geboren wurden, unsere zwei Jungen. Eine Dreier-Packung. Aber ich bin alt.« Sie lacht wieder, nimmt einen tiefen Zug mit geschlossenen Augen, dann steckt sie ihm die Zigarre – »
So
ist’s brav« – in den Mund. Wie eine Krankenschwester das Thermometer. Er beugt sich hinunter. Als sein Gesicht dicht vor ihr ist, berührt sie seine Wange. »Sie weinen.« Eine Feststellung. Sie fasst ihn am Kinn und trocknet ihm mit ihrem Taschentuch das Gesicht. »Fertig.« Sanft tätschelt sie seine Wange, lächelt und sagt dann noch, bevor sie geht: »Bei der Kälte kommen mir auch immer die Tränen.«
Olu geht rauchend die Huntington Avenue entlang. Die Straßenlaternen träufeln Gold in die hellen Pfützen. Der Schnee nimmt zu, während Olu heimwärts strebt, nach vorne gebeugt, mit klappernden Zähnen und nackten Armen. Ohne Mantel. Samstägliche Nachtschwärmer kommen vorbei, stolpern und rufen. Die wenigen Autos fahren langsam, keine Bodenhaftung, Angst. Keiner scheint zu merken, dass da jemand die Straße entlanggeht. Bloße Arme, blauer OP -Kittel. Und der Paukenschlag.
Ling schläft mit dem Rücken zur Tür. Er bleibt im Türrahmen stehen und betrachtet sie. Das schräge Licht zerteilt ihren Körper in zwei Teile. Ihre Haare auf dem Kissen ein kleiner Ölteppich. Glatt, schwarz. Das Schlafzimmer ist weiß, ganz weiß, alles weiß. Ling findet es übertrieben, ein kleines Störmanöver würde nichts schaden. Sie hat ihr rotes T-Shirt auf dem Boden liegenlassen, ein Wink. Er hebt es auf, ganz leise, blickt sich um. Dann geht er zu dem Eames-Stuhl (weiß), drückt das T-Shirt an sich, wie ein Kind seine Schmusedecke oder einen Bären, wegen des Geruchs. Chanel No 5 , Jergens-Lotion (Kirsche-Mandel). Er will ihren Namen sagen, will ihn hören. Sagt: »L….«
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