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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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Geschichte ergeben konnte, nach der Beschränktheit und Naivität ihres früheren Ichs. Danach hörte sie einfach auf, sich mit Einzelheiten abzugeben; der Gedanke, dass die Existenz ihre Form aus den spezifischen Umständen bezieht, interessierte sie nicht mehr. Ob dieses oder jenes Haus, dieser oder jener Pass, ob Baltimore oder Lagos oder Boston oder Accra, ob teure Kleider oder geerbte Sachen, ob Floristin oder Anwältin, ob Leben oder Tod – das alles spielte letzten Endes keine Rolle. Wenn man ohne Identität sterben konnte, ohne jeden Kontext, dann konnte man auch ohne jeden Kontext leben.
     
    Das ist es, was sie denkt, während sie hier sitzt, nass, leer, ein Schiff, das gerade Schiffbruch erlitten hat, an einem dunklen Ufer. Sie denkt, dass die Details sich unterscheiden, während die Leere unveränderlich ist, ohne Ende, die Abwesenheit genauso gegenwärtig und absolut. Er ist jetzt fort, ihr Vater, ist schon so lange fort, dass das Fort-Sein seine Existenz vollständig ersetzt hat. Das ist nicht allmählich geschehen, sondern plötzlich, in seinem Schlafzimmer. Er wurde weggenommen, und sie ist geblieben, und damit war die Sache erledigt.
    Damit ist die Sache erledigt.
    Ein Pfeffervogel, frecher als seine zänkischen Spielgefährten, klopft an die Glasscheibe auf der anderen Seite des Vorhangs. »Kukuu, kukuu, kukuu«, ruft er, und Fola wird kurz daran erinnert, was sie gesagt hat, als sie aufwachte. Was war es noch mal? Sie weiß es nicht mehr. Ein Albtraum. Es war nichts. »
Kuu
-ku«, beharrt der Bülbül, aber die Klimaanlage stört.
    »Tat-tat-tat-tat-tat.« Ein Todesrasseln. Es verstummt, und im Schlafzimmer wird es still.
    Fola wartet eine Minute, dann muss sie darüber lachen, dass sie wartet. Worauf wartet sie?
Da ist nichts
, denkt sie. Er ist fort, sie bleibt, Sache erledigt, tat-tat-tat. Sie dreht sich um und schläft weiter.
    * * *
    Aber sie schläft nicht tief.
    Das Telefon klingelt.
    Zuerst denkt sie:
Nein, ich träume noch
. Ignoriert das Klingeln. Aber dann fragt sie sich, wie sie denken kann, wenn sie träumt. Also öffnet sie ein Auge. Hört das Klingeln. Geht dran. »Hallo?«, murmelt sie.
    »Fola«, antwortet er.
    Ein Mann. Aber wessen Nummer ist das? Nicht seine. Nicht Olu. Nicht Kehinde. Die Stimme ist zu tief. »Wer ist da?«
    »Ich bin’s. Benson«, sagt er.
    »Oh, hallo, Benson. Wie spät ist es?«, fragt sie und blickt sich nach einer Uhr um.
    »Entschuldige, dass ich so früh anrufe …«
    Keine Uhr. »Wie spät ist es?«, wiederholt sie.
    »Es ist nur – du hast mir letzten Donnerstag diese Nummer gegeben …«
    Ein Mann, der Zeit gewinnen will.
    Als sie das begreift, setzt sie sich sofort besorgt auf. »Was ist los?« Es folgt ein sehr kurzes Schweigen. »Es tut mir sehr leid«, beginnt er, und sie geht schnell die vier Quadranten durch, lebendig, wenn auch nicht unbedingt in bester Verfassung, Fische im Wasser, es geht ihnen gut. Sie weiß, dass er weint, aber sie weiß nicht, warum sie es weiß. Sie hört nichts. Instinktiv tröstet sie ihn. »Du musst nicht weinen. Den Kindern geht es gut.«
    Was er für eine Frage hält. »Ja«, sagt er rasch. »Bestimmt geht es allen gut.« Ein Hüsteln, ein leises Schniefen. Und dann wieder nichts.
    »Benson?«
    »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es tut mir leid.«
    Jetzt weiß sie, was, und sie weiß, wer, und sie schweigt.
    »Fola?«
    Wie konnte ihr das nur entgehen? Nicht das Kind. »Wo bist du?«, fragt sie.
    »Beim Haus«, antwortet Benson. »Seine Frau –«, dann unterbricht er sich. »Es tut mir so leid.«
    Nicht der Vater. Das Rauschen kommt zurück, ohne Vorwarnung, und es wird lauter, steigt auf, die Flut von der Mitte. »Bitte nicht«, stöhnt Fola.
    »… sie hat mich zu Hause angerufen, und ich sofort hin, aber das Herz hatte – er – es war zu spät.«
    Benson redet weiter mit seiner sonoren Stimme, er klingt genau wie Luther Vandross. Zwischen den verschiedenen unzusammenhängenden Dingen, die Fola jetzt denkt, taucht auch die Erinnerung daran auf, wie sie Benson im Hopkins kennengelernt hat. Dreiundzwanzig Jahre alt, in der Krankenhauslobby, mit dem schlafenden Olu in ihrer
wrappa
. Benson in seinem OP -Kittel, seine Haut gebrannte Umbra, der größere der gutaussehenden Ghanaer.
    Der andere.
    »Kuku!«, ruft der Bülbül.
    »Bitte«,
flüstert Fola. »Jetzt noch nicht, bitte, nein, Kweku-
nein.
«

Zwei
    Olu verlässt, nicht besonders eilig, das Krankenhaus, stellt seinen Kaffee ab, legt sein

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