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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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würde er sich selbst bestätigen, dass er weiterreden sollte, und schlug die Beine übereinander, legte die Hände übereinander auf die Knie. »Es stimmt –
meinen
Segen haben Sie nicht. Und Sie werden ihn auch nie bekommen. Aber nicht aus den Gründen, die Sie vielleicht vermuten. Bestimmt nicht aus den Gründen, die
sie
vermutet. Ich meine Ling.« Er blickte zum Flur, den sie hinuntergerannt war. Olu setzte sich wieder anders hin, aber um es sich bequemer zu machen, um zuzuhören, eingelullt von dem Rhythmus, dem professoralen Tonfall. Seltsam, wie das funktionierte, selbst jetzt noch, obwohl er bereits Mitte dreißig war. Dieser Automatismus, dass er sich sofort als Student fühlte, sobald irgendwo Lehrkörper-Signale auftauchten. »Als ich in Pittsburgh studiert habe – großartige Stadt –, war ich mit ziemlich vielen Afrikanern befreundet. Mit Männern. Ausschließlich mit Männern, was ja nicht weiter verwunderlich ist. Ingenieurwissenschaften. Kleine Jungs mit ihren Spielsachen.« Trank einen Schluck Tee. »Sie kamen von überall her, manche wohlhabend, manche bitterarm, aber alle hochbegabt, schlicht genial, alle fünf. Die Fleißigsten in unserer Gruppe, das muss ich sagen, und alle verblüffend gut in Mathematik.« Strich sich über die Haare. »Amerikaner bezeichnen Asiaten gern als die ›beispielhafte Minderheit‹. Das war sicher einmal richtig. In der jüngeren Vergangenheit. Aber heute sind es die Afrikaner. Ich sehe das in den Hörsälen. Die Asiaten sind erledigt. Wir sind fett geworden. Nein – lachen Sie nicht. Früher hat man nie übergewichtige Asiaten gesehen, jedenfalls keine jungen. Als wir hierher gekommen sind, als die Mädchen noch klein waren, da gab’s das nicht. Aber jetzt sehe ich sie überall, Koreaner, Chinesen, in der Bahn, auf dem Campus. Das ist der Anfang des Endes. Ein fettes asiatisches Kind kann vielleicht beim Rechtschreibwettbewerb gewinnen, aber bei einem Physikwettbewerb? Niemals. Jetzt sind die Afrikaner an der Reihe. Das meine ich ernst. Und Sie lachen.«
    Aber Olu konnte nicht anders.
    Dr. Wei fing auch wieder an zu lachen, dröhnende Salven, »Ich sage das, um zu betonen, dass ich die Kultur bewundere, Ihre Kultur. Vor allem den Respekt vor Bildung. Alle Afrikaner, denen ich im akademischen Kontext begegnet bin, haben Hervorragendes geleistet, ausnahmslos. Ich kenne keinen einzigen faulen afrikanischen Studenten. Auch keinen fetten, nebenbei bemerkt. Und ich bin jetzt vierzig Jahre hier. Ich weiß, es klingt verrückt, und wir lachen beide, aber Sie können mir glauben. Ich unterrichte Studienanfänger. Ich sehe es jeden Tag: Die afrikanischen Immigranten sind die Zukunft der Wissenschaft. Und die Inder.« Er schwieg, um seinen Tee auszutrinken.
    Während Olu grinsend auf seinem Stuhl saß. Komisch, ihm gefiel Dr. Weis Art zu reden. Ling hatte ihn immer als arrogant, unnachgiebig und stur verunglimpft, als charmant bis zu einem bestimmten Punkt, aber danach nur noch abweisend. Sie war während des ganzen Studiums in den Ferien nie zu Hause, sondern hatte lieber im Ausland gemeinnützige Arbeit geleistet. Nicht einmal zur Hochzeit ihrer Schwester ging sie, um nur ja nicht ihren Vater sehen zu müssen, und sie ignorierte seine Anrufe, die zweimal im Jahr kamen: einmal am zweiten September, mit einem falsch gesungenen »Happy Birthday«, und dann noch am chinesischen Neujahr mit »Kung Hei Fat Choy«. Olu wusste, dass es besser war, sie nicht zu bedrängen, und er bedrängte sie nie, fast fünfzehn Jahre lang fragte er sie kein einziges Mal:
Liebling, wollen wir nicht mal nach Newton fahren und sie besuchen?
Oder
Was hat er dir denn angetan?
Kein einziges Mal machte er diesen Vorschlag. Und Ling ihrerseits fragte nicht, was mit seinem Vater los sei, warum sie nie nach Ghana reisten (sonst waren sie überall), warum er sich erst neulich so gesperrt hatte, als Fola ihnen eine E-Mail geschickt und sie beide für Weihnachten zum Essen eingeladen hatte? Stattdessen hatten sie allein zu Hause herumgesessen, in Allston, New Haven, nur zehn Minuten zu Fuß von der Adresse entfernt, wo Olu früher gewohnt hatte. So viele Fragen und Wunden, unbeantwortet, unbehandelt, einfach nicht angerührt, damit sie austrockneten, in aller Stille und in der Sonne.
    Deshalb war Olu jetzt schockiert, dass er hier saß und grinste und sich mit dem Mann, den Ling so hasste, ganz wohl fühlte. Dr. Weis Umgangsformen hatten etwas Nettes, ein pedantischer Mathematiker, der sich

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