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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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von der Nase auf den Kopf. »Hat er Sie angerufen?«
    »Nein.«
    »Aber Sie waren bei ihm.«
    »Ja.«
    »Sie haben ihn angerufen.«
    »Ich habe ihn nicht angerufen. Ich bin einfach hingefahren.«
    Wieder ein Seufzer. Wildes Gekritzel. »Und die Nacht mit ihm verbracht.«
    »Den frühen Morgen.«
    »Fangen wir mit unserer Entscheidung an. Wissen wir, warum wir hingefahren sind?«
    Was kann sie darauf antworten? Warum waren »wir« bei ihm?
Wir hatten das Gefühl, dass unser ganzes Wesen aus uns herausströmt wie Atemluft, und uns überkam das Verlangen, zu berühren und berührt zu werden, irgendwie Kontakt herzustellen.
    Wir haben unseren Vater vermisst.
     
    »Was haben Sie gesagt?«
    Der Taxifahrer mustert Taiwo im Rückspiegel, sie fühlt sich ertappt, setzt sich anders hin, nimmt den Kopf von der Fensterscheibe. »Wie bitte?«
    »Sie haben etwas gesagt.« Der Fahrer ist Ghanaer. Das hört sie an seinem Akzent. »›Ich habe meinen Vater vermisst‹, haben Sie gesagt.«
    »Echt wahr?« Taiwo wird verlegen. Der Fahrer nickt, lächelt. Ihre Blicke begegnen sich im Spiegel, und sie sieht, wie er reagiert. Er schaut schnell weg, dann schaut er ihr wieder in die Augen, wie jemand, der dabei erwischt wird, dass er etwas macht, was er nicht machen dürfte was er aber auch nicht sein lassen kann.
    »W-wo kommen Sie her?«, stammelt er peinlich berührt. »Was sind Sie?« Aber er meint, was sie alle meinen: Was hast du für Augen?
    »Ich weiß es nicht.«
    »Sie klingen britisch.«
    »Ich habe in England studiert.«
    »Ich – ich bin aus …«
    »Aus Ghana. Ich weiß. Ich habe es gemerkt.«
    »
Ey!
Woran haben Sie es gemerkt?«
    »Meine Mutter ist Nigerianerin.«
    »Bella naija!«
Er strahlt. »Und diesen Vater haben Sie vermisst?«
    »Habe ich das wirklich gesagt?«
    »Sie müssen laut gedacht haben.«
    »Habe ich das gedacht?« Sie lächelt. Ihr BlackBerry klingelt.
    »Das ist Ihr Vater!« Jetzt lacht er und schaut wieder über den Spiegel nach hinten.
    Sie tastet nach dem Telefon in der Tasche bei ihren Füßen. Findet es. »Das ist mein Bruder.« Sie runzelt die Stirn, legt das Telefon weg, lehnt sich zurück und schweigt. Das Radio spielt leise Wagadu-Gu, »Sweet Mother«, den munteren Afro-Pop-Hit aus Sierra Leone. Der Fahrer grinst nicht mehr, konzentriert sich wieder ganz auf die Straße. Wie das bei Taxifahrern üblich ist, weiß er genau, wann er aufhören muss, wann der Moment vorbei ist, wie man eine Szene beendet: den Blick stur auf die Straße richten, das Radio lauter stellen.
    Taiwo lehnt den Kopf wieder an die Scheibe, aus alter Gewohnheit, das Telefon zwischen den Fingern, »O. Sai« auf dem Display. Sie ist froh, dass sie ihn verpasst hat, sie denkt (den Panzer anlegend), dass sie um diese Nachtzeit keine Moralpredigt brauchen kann. Olus fünfminütige Vorträge über die Familienehre der Sais, über »Was andere von ihnen denken« müssen,
oh, die Scham
.
    Nein.
    Was weiß er schon von Scham, Olu, der Perfekte, genauso adrett und angespannt wie der andere früher, mit seinem feinen kleinen Leben im kalten Boston, mit seiner Freundin und ihrem kalt weißen Apartment, weißes Lächeln an der Wand,
Ling-und-Olu tun Gutes bei warmem Wetter
, zwei Roboter, Titel hamsternde, Stipendien gewinnende, Gutes tuende Androide, ein Beispiel an Perfektion, Neue-Immigranten-Perfektion, belohnte Feigheit, denkt sie (den Bogen gespannt, eine alte Angewohnheit ist das, eine schlechte. Sie greift ihre Angreifer an sowie jeden, bei dem sie vermutet, dass er einen Angriff plant, richtig oder falsch, sie registriert sämtliche Schwächen ihrer Gegner und bringt sie so in Misskredit).
Er
hat doch keine Ahnung!
    Ja.
    Wenn jemand auf diesem Karussell geblieben ist, Goldringe gesammelt hat, im Sitzen, lächelnd und in Sicherheit, dauernd nur im Kreis, wenn jemand die gleichen vier Jahre immer wieder lebt, Milton, Yale, Medizin, ein Leben auf Programmwiederholung – 1 ) bewirb dich dafür, bei einer Elite-Einrichtung angenommen zu werden 2 ) werde angenommen 3 ) arbeite hart 4 ) mach deine Sache gut und fang dann wieder bei 1 ) an, vier Jahre später – dann,
ja,
dann kann derjenige vielleicht einen Vortrag über »Scham« halten. Kann sie vielleicht als »Versagerin« bezeichnen, weil sie das Jurastudium geschmissen hat, kann sie als »rücksichtlos« beschimpfen, eine »Enttäuschung für Mom«, das endgültige Aus der Produktion,
Erfolgreiche Familie
in Trümmern, Vorhang zu, das Theater für immer geschlossen. Aber

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