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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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Erstgeborene, und dann der Künstler (begabt, ungeschickt) sowie das Baby. Und sie selbst. Fest entschlossen, eine makellose Darstellung abzuliefern und unter donnerndem Applaus von der Bühne zu schweben. Bezaubernde Tochter von Siegern, Beste in der Grundschule, die strahlendste Schülerin auf dem Klassenfoto mit lauter strahlenden Augen. Niemand zwang sie dazu. Er nicht und Fola erst recht nicht. Niemand gab für dieses gemeinsame Streben nach dem einen Ziel die Route vor – waren sie etwa schon angekommen? Hatten sie es geschafft? Waren sie bereits eine erfolgreiche Familie –, aber Taiwo wusste, dass sie weitermachen, sich weiterhin anstrengen musste, sie merkte es an dem Summen.
    Die Familien in den Fenstern aber waren längst erfolgreiche Familien, den Hauptteil hatten sie schon vor Generationen erledigt, sie bauten nichts auf, bemühten sich nicht, mussten sich nicht anstrengen: Das Ziel war erreicht. Sie konnten sich entspannen, sich ausruhen. Abends sah Taiwo diese Leute in ihren Fenstern, fertig, bei ihnen herrschte Stille, es gab kein Summen, nur friedliches Familienleben, in Ölfarbe über den Kaminen festgehalten, die Füße auf einem Kissen, zur Ruhe gekommen und zu Hause.
    Aber was konnte sie antworten, wenn Fola sie fragte, Fola, die immer gleich loslachte, immer belustigt: »Warum starrst du immer so nach hinten, mein Schatz?«
    »Die Häuser.«
    »Die Häuser? Aber du hast doch ein eigenes Haus.«
    Aber kein Zuhause
, das war der Unterschied, den sie schon damals sah, der ins Auto hineinlugte, von draußen, während sie vorbeifuhren – und den sie jetzt wieder sah, während sie auf dem Gehweg stand. Und sich eine Zigarette anzündete. Das Klischee.
Aber kein Zuhause
.
    »Bist du das?«
    Er hatte die Tür oben an der Treppe einen Spaltbreit geöffnet, um auf den Gehweg hinuntersehen zu können. Zuerst drehte sie sich nicht um, sondern schaute seine Straße hinunter, zu den erhellten Fenstern seiner Nachbarn, und dachte gleichzeitig daran, wie sie für ihn aussah. Kurzer weißer Pelzmantel. »Um Himmels willen, es ist eiskalt da draußen. Wohin schaust du?« Er folgte ihrem Blick die Straße entlang. Jetzt erst drehte sie sich um.
    Und da stand er, liebenswert und zuverlässig und etwas zerzaust, in Jogginghosen und Pullover, dazu ein unpassender Schal.
    »Ich bin’s«, sagte sie und blies einen Rauchschnörkel in die Luft. »Hast du mich vermisst?«
    Mit einem Stöhnen: »Komm her.«
    Und sie ging zu ihm.
     
    Was war es diesmal, was sie, um Mitternacht, kurz vor dem Einschlafen, antrieb, aufzustehen, sich anzuziehen und zu gehen? Wenn sie doch genau
weiß –
das denkt sie jetzt –, dass das bedeutet, wieder da anzufangen, wo sie aufgehört haben?
    Sie sitzt im Taxi, den Kopf ans Fenster gelehnt, (ihr Mantel ist ziemlich plattgedrückt, weil er stundenlang auf dem Fußboden lag) sie schaut hinaus auf den Hudson, New Jersey, hell erleuchtet. Sie fühlt sich benommen, leer, eine komische Art von Ruhe. Und erinnert sich jetzt: Mitternacht, allein in ihrem Zimmer, nachdem sie früh schlafen gegangen ist, das seltene freie Wochenende, und sie schreckt hoch im Bett, in der Dunkelheit, bekommt kaum Luft und weint los, ohne jeden Grund.
    Sie hat es vergessen.
    Es ging so schnell – der Moment des Erwachens, die Tränen, die ohne Grund kamen und dann wieder aufhörten –, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, was sie aufgeweckt hat, schon zwei Minuten später wusste sie es nicht mehr und jetzt immer noch nicht. Es war nicht die Schlaflosigkeit, ihre lebenslange Begleiterin, nicht diese »Leeregefühle«, wie Dr. Hass es ausdrückt (falsche Bezeichnung, sagt Taiwo: Es gibt nur
ein
Gefühl, nur eine Art, leer zu
sein
, nur eine Art, es zu fühlen). Es war etwas komplett anderes, was sie gefühlt hat, bevor sie gegangen ist, und sie erinnert sich (zu spät), als sie sich auf den Heimweg macht, an diese vergessenen paar Sekunden mit dem bizarren Schmerz, unvorstellbar heftig, ein Kraftfeld der Qual. Ja. Das hat sie aufgeweckt. Ein Kraftfeld des Leids. Aber was kann sie zu Dr. Hass sagen, die bestimmt seufzen wird: »Dann haben wir ihn also wiedergesehen …« Montagmorgen, Central Park West, die Bäume draußen vor dem Fenster schneebedeckt, kahle braune Zweige wie Beine mit einem kurzen weißen Pelzmantel, dazu die zeremonielle Geste, welche den Seufzer begleitet: die Brille hochschieben (die vielleicht gar keine echte Brille ist, denkt Taiwo, eine Designerbrille, ein Therapeutenrequisit),

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