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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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wie? Wie kann
er
wissen, was das ist, wenn man angestarrt wird und über einen geredet wird, oder schlimmer: was das ist, wenn das alles einem eigentlich egal ist und man sich ergibt? Er, der keine Ahnung hat von hitzigen Dingen, von falschen Dingen, keine Ahnung von Verlust, Versagen, Leidenschaft, Begehren, Schmerz und Liebe? Wenn sie es nicht weiß, es keinem erklären kann, Dr. Hass nicht und auch nicht sich selbst, wenn doch sie selbst nicht weiß, wo er herkommt, dieser unbändig gefräßige Wunsch, verschluckt zu werden, verdaut zu werden, durch einen Körper hindurch zu gehen, nur um sich dann wieder zum Mund des Biests zu schleppen?
    Olu kann es nicht wissen.
    Also liegt er da, stumm, von Pfeilspitzen durchbohrt, der perfekt-penible Lieblingssohn, der Erstgeborene, niedergestreckt, während sie den Kopf an die Rückenlehne legt, gerettet und erschöpft, weil es so anstrengend ist, den Bruder abzuwehren.
    Es bringt ihr keinen Trost, dass sie Olu erledigt hat. Im Gegenteil – als sie näher hinschaut, sieht sie ihr eigenes Gesicht, nicht Olus Gesicht, ihren Körper, nicht seinen, wie er durchbohrt von spitzen Pfeilen im Schnee verblutet.
    »Nein?«, sagt der Fahrer.
    »Wie bitte?«, sagt Taiwo.
    Der Fahrer macht ein besorgtes Gesicht. »Sie haben gerade ›Nein‹ gesagt.«
    »Ich meinte, nein, nehmen Sie nicht die 96 th Street«, lügt Taiwo schnell, verärgert über ihre neue Angewohnheit, laut zu denken. »Wenn Sie bei der 125 th Street rausfahren, geht es schneller. Einfach nur hoch bis Amsterdam Avenue, dann rechts, und wir sind da.«
    »Wird gemacht«, sagt der Fahrer. Er wirft einen Blick auf Taiwo.
    Sie starrt aus dem Fenster, auf das Blut im Schnee.
     
    Und wie war
das
passiert?
    Der Tod der beliebten Tochter. Die klügste Schülerin, die sich nie umschaute, sondern die Hälfte ihres Lebens mit der Nase in einem Buch verbrachte, die lateinische Stammformen lernte und die richtigen Antworten ausspuckte. Allein. Sie hat sich nie einem Mann nahe gefühlt, nicht mehr seit Kehinde. Ihre Bemühungen, Freundschaften zu schließen und zu pflegen, führen zu nichts. Immer steht das Thema Schönheit im Weg, als Neid bei den Frauen, als Begehren bei den Männern (letzten Endes kein Unterschied, Begehren und Neid, gemeinsamer Ursprung, Blüte und Blatt derselben verdrehten Wurzel). Trotzdem, als die Presse davon erfuhr, klang alles ganz natürlich, eine Geschichte so alt wie die Menschheit: Schönheit, Macht und Sex, der Dekan der juristischen Fakultät bei einem Liebes-Stelldichein mit einer Redakteurin der
Law Review.
DIE SCHÖNE UND DER DEKAN ! auf
Seite sechs
und so weiter. Und so war es ja auch, in gewisser Weise. Es
war
natürlich, dass es passierte: Ein Mädchen in einer Stadt, die alle Blonden anbetet, findet einen Jungen (zweiundfünfzig, früher blond, jetzt silber-und-gold) in einer Stadt, die die Jugend anbetet. Das sagten die Medien nicht. Sie sagten, dass Dekan Rudd, geboren Rudinsky, genialer Beschaffer von Finanzmitteln, ein charmanter Anwalt, der Wissenschaftler wurde, mit einer Frau aus altem Geldadel (die bekannte
New York Times
-Gastrokritikerin Lexi Choate-Rudd), ehemaliger Marshall-Stipendiat, White House Fellow, Assistent bei Carter, Spezialassistent bei Clinton, der Kronprinz der Begabten – dass dieser Dekan Rudd endgültig seinen Heiligenschein als Golden Boy verloren habe und augenblicklich zurückgetreten sei, in die Innenstadt gezogen.
    Vorhang zu.
    Dr. Hass, die Psychotherapeutin, die von der Universität angestellt war, um überehrgeizige Exjugendliche am Abend vor der Prüfung zu beruhigen, fand es ebenfalls natürlich und gleichzeitig wesentlich spannender als die üblichen Ess- und Angststörungen. Das ist der Grund, oder jedenfalls vermutet Taiwo dies schon seit einiger Zeit, weshalb Dr. Hass darauf bestand, kostenlos weiterzumachen, als der Skandal bekannt geworden war und Taiwo die Uni verließ und ihre Krankenversicherung als Columbia-Studentin abrupt aufgelöst wurde. Und sie macht immer noch weiter, obwohl es inzwischen schon anderthalb Jahre sind, sie beharrt darauf, dass sie die Therapie sinnvoll abschließen sollten, »die Arbeit zu Ende bringen«. Mit nur dürftig verschleierten Anspielungen auf die Problematik »Hinschmeißen und Aufgeben«. Ein tapferes Exemplar dafür, wie man beides nicht tut, ist sie selbst, diese Clara Hass, mit extremem Kurzhaarschnitt und Schildpattbrille und mit der Stimme eines DJ s in einer Softrock Show im Nachtprogramm. Sonstige

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