Diese Dinge geschehen nicht einfach so
bemühte, Freundschaft zu schließen. Er mochte noch so arrogant wirken – dass er sich immer über die Haare strich, verriet ihn: Dr. Wei war gehemmt, unsicher. Warum, blieb unklar. Vielleicht wegen des Akzents, der seine Konsonanten einhüllte und die mühelose Vortragsweise bedrohte, beim »R«. Vielleicht weil er eher fragil gebaut war, was durch Olus breite Brust noch unterstrichen wurde? Vielleicht wegen der tiefen Traurigkeit in seinen Pupillen, die genauso präsent war wie die Lachfältchen um seine glänzenden Augen? Oder aus irgendeinem anderen dunklen Grund. Olu konnte nicht sehen, was es war, aber er spürte, dass dieser Mann durchaus wusste, was Scham bedeutete. Und Olu sagte: »Interessant« oder etwas Ähnliches, als Dr. Wei sich wieder über die Haare strich und weiterredete.
»Wissen Sie, ich habe die Fehlfunktionen in Afrika nie verstanden: die Gier der Herrschenden, Krankheiten, Bürgerkriege. Dass die Leute im einundzwanzigsten Jahrhundert immer noch an Malaria sterben, dass sie sich immer noch zerstückeln und vergewaltigen, Genitalien abschneiden, dass sie kleinen Kindern und Nonnen mit Macheten die Kehle durchschneiden, diese Mädchen im Kongo, die Probleme im Sudan. Als junger Mann in China habe ich angenommen, dass es Unwissenheit ist. Intellektuelle Unfähigkeit, vielleicht auch Minderwertigkeit. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich mich geirrt habe. Das ist mir ziemlich schnell klar geworden. Kann passieren. Doch die Rückständigkeit hört nicht auf, bis heute nicht, und warum ist das so? Wenn doch afrikanische Männer so gescheit sind, wie wir eben festgestellt haben? Und die Frauen sind genauso gescheit, nicht dass Sie mich falsch verstehen. Ich bin kein Sexist. Aber warum ist dieser Kontinent immer noch so rückständig, frage ich? Soll ich Ihnen sagen, was ich denke? Es gibt keinen Respekt vor der Familie. Die Väter ehren ihre Kinder und Frauen nicht. Der Olu, den ich kannte, Oluwalekin Abayomi – er hatte zwei uneheliche Kinder und dazu noch drei mit seiner Frau. Ein hochintelligenter Mensch, dem keiner das Wasser reichen konnte, aber ohne moralisches Rückgrat. Deshalb habt ihr Kindersoldaten und Vergewaltigungen. Wie könnt ihr die Tochter oder den Sohn eines anderen Mannes achten, wenn ihr nicht einmal eure eigenen Kinder achtet?«
Olu schwieg, zu bestürzt, um etwas zu sagen.
»Ihr könnt es nicht.« Dr. Wei breitete die Hände aus: QED . »Ihre Mutter zum Beispiel,
Ms
Savage. Nicht ›Mrs‹. Mit einem anderen Nachnamen als Sie. Sai. Stimmt’s? Ich nehme an – und es ist nur eine Annahme, das gebe ich zu –, dass Ihr Vater Ihre Mutter verlassen hat und sie die Kinder allein großziehen musste?«
Olu saß wie erstarrt da, zu wütend, um sich zu rühren.
»Genau. Und da haben wir Ihr Vorbild. Ihr Vater. Der Vater ist immer das Vorbild.« Er schwieg. »Jetzt sagen Sie vielleicht: ›Nein, nein, ich bin nicht wie mein Vater …‹«
»Nein«, murmelte Olu.
»Und das ist es, was Sie
denken
, aber …«
»Ich bin genau wie mein Vater. Ich bin
stolz
darauf, dass ich so bin wie er.« Fast nur ein Flüstern war es, was da durch Olus zusammengebissene Zähne drang. Dr. Wei, den das unvorbereitet traf, legte den Kopf schräg, musterte Olu – der seinen Blick unbeirrt erwiderte, mit zitternden Händen, mit zitternder Brust. Olu sagte: »Er ist Chirurg, genau wie ich, und der Beste auf seinem Gebiet«, und dann der Rest als leiser, brodelnder Wolkenbruch: »Das Problem ist nicht, dass Ling einen Afrikaner heiraten will. Es ist nicht, dass sie
mich
heiratet. Das wird sie sowieso tun. Nein, das Problem sind
Sie
, Dr. Wei.
Ihr
Vorbild. Sie sind das Vorbild für das, was sie nicht wollen, was sie beide nicht wollen, Ling und Lee-Ann. Und warum ist das so? Warum gibt es keine Fotos von den beiden in Ihrer Wohnung? Wie war das gleich – ›der Vater ist immer das Vorbild‹? Ihre Töchter wollen beide etwas anderes.«
Ling kam herein, im Mantel, Olus Mantel über dem Arm.
»Aaaaaaa-men.«
Lacrimosa
, der Höhepunkt.
Dr. Wei räusperte sich, doch bevor er etwas sagen konnte, packte Ling Olu und ging. Zur Tür hinaus, einfach so.
Dann gemeinsames Gelächter, eine Flöte und ein Cello, die Autofenster offen für Vogelgezwitscher und eine frische Brise.
»Du hast alles mitgekriegt?«
»Ich habe vom Badezimmer aus zugehört. Ich habe die Ohren gespitzt. Ich liebe dich so.« Sie weinte. »Komm – wir heiraten. Heute Abend noch. In Las Vegas.«
»Jetzt
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