Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Elternschlafzimmer (als ihre Eltern noch als solche existierten, im Plural) und hörte alle anderen in der Küche unter ihr reden, ihre Stimmen ein Gemurmel, ein Summen, das durch den Fußboden drang: ihr Vater und ihr Bruder, dessen Stimme neuerdings tief war, die Zwillinge in der achten Klasse, mit ihrer heiseren Stimme, und ihre Mutter, die immer lachte, ein ständiger Regen aus Gelächter, tropftropf, wie Weinen, ein Lachen voller Tränen.
1 , 2 , 3 , 4 , 5 , 6 , 7 , 8 .
Wer von ihnen würde zuerst feststellen, dass Sadie weg war? Olu, meistens war es Olu, ein Bass in der Ferne, »Wo ist Sadie?«, drang nach oben durch die Dielen, ein Aufflackern, aber sie hoffte immer irgendwie, dass ihre Schwester es merken würde, dass
sie
nach oben kommen und nach ihr suchen würde. Taiwo kam nie.
9 , 10 , 11 , 12 , 13 , 14 , 15 , 16 .
Während sie jetzt in dem Badezimmer sitzt, das sie mit ihrer Zimmerkollegin teilt und darauf wartet, bis Philae merkt, dass sie weg ist.
Philae.
Wie eine Schwester für Sadie. So hübsch.
Das Licht ihres Lebens und der Stachel im Fleisch, Philae Frick Negroponte, früher Liebling in Milton, im zehnten Schuljahr von Spence in New York gekommen, jetzt der Liebling in Yale, mit ihrem griechischen Unternehmer-Vater und der amerikanischen Mutter, einer bekannten Vertreterin der Schickeria. Philae. Ihr Lächeln und die grauen Augen und die blonden Haare und die sonnengebräunte Haut und dann die langen Beine, die Sadie liebt wie ihre eigenen. Philae an einem Tag im September in der ersten Stunde, kannte niemanden in Milton und setzte sich neben Sadie. Ausgerechnet. Wunder über Wunder.
»Hast du was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Danke.« In einer schwarzen Lederhose. Die erste Lederhose, die Sadie je gesehen hat. »Geht es hier um mich – oder sehen die andern alle
dich
an?«
»Nein, dich. Und ich würde nicht sagen, sie sehen dich an. Sie starren dich an. Sie glotzen.«
Sie war amüsiert. »Ich heiße Philae.«
Sie war hin und weg. »Ich heiße Sadie.«
»Philae und Sadie«, verkündete Philae mit strahlender Miene. »Das gefällt mir. Du gefällst mir.« Und so ging es immer weiter: Filme, Pyjama-Partys, Ferien, zusammenpassende » BFF «-Kettchen,
Best Fried Forever,
mit » BFF « auf Arabisch (ein Geschenk von Philae aus Dubai, frühe Bewerbungen in Yale, wo schon Philaes Mutter und ihre Onkel, ihr Großvater und ihr Urgroßvater studiert hatten sowie Sadies Bruder. Philae und Sadie: die Unzertrennlichen, die Unbesiegbaren,
Miss Beliebtheit
als Partnerin von
Miss Erfolgreich
, eine Highschool-Freundschaft, die im Himmel geschlossen worden war, umgesiedelt nach New Haven, als
Campus Celebrity
und
Beste Freundin
. Die treue Freundin, die Unersetzliche, der tragende Flügel usw. Eine Rolle, die Sadie spielte, als wäre sie dafür geschaffen. Der Nick zu Philaes Gatsby, der Charles zu ihrem Sebastian, der Gene zu ihrem Finny. Es gibt überall den Freund, das weiß Sadie, jede Studentin im ersten Studienjahr, die ihre Pflichtlektüre liest, weiß das: Der Erzähler einer Geschichte ist immer der Freund.
Trotzdem hat Taiwo nicht recht, wenn sie sich über sie lustig macht, weil Sadie angeblich redet wie Philae – dass sie dauernd »irgendwie« oder »keine Ahnung« sagt – oder weil sie sich anzieht wie Philae, soweit ihr monatliches Stipendium das erlaubt. Und Taiwo hat auch nicht recht, wenn sie denkt, dass Sadie, »insgeheim weiß sein möchte«. Es geht nicht um »weiß«, obwohl es natürlich stimmt, dass sie noch nie viele afroamerikanischen Freunde und Freundinnen hatte, weder in Milton noch in Yale, wo alle sie immer übertrieben vorstädtisch zu finden scheinen, eigentlich ohne »Geheimnis«. Obwohl so viel Trara um Authentizität, um authentisches Schwarzsein gemacht wird (wobei man, ihrer Meinung nach, Identität und musikalische Vorlieben verwechselt), ist es für Sadie sonnenklar, dass sie
alle
diese Patina des Weißseins haben oder besser: die des WASP -Seins; auch wenn sie schwarz, lateinamerikanisch, asiatisch sind – sie sind zuerst und vor allem Ivy League-Streberinnen, sie beginnen ihre Bemerkungen mit einem langgezogenen
»aahm«
, und letzten Endes werden sie alle in Anwaltskanzleien oder Krankenhäusern oder Beratungsfirmen oder Banken arbeiten, nachdem sie einen Master in Kunst gemacht haben. Sie sind ethnisch heterogen und kulturell homogen, durch Kontakt, Osmose, Adoleszenz. Sie akzeptiert das ohne Angst; es ist
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