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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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Vernichtet das Beweismaterial. Sie wühlt ihre Handtasche durch nach dem üblichen Werkzeug. Mundwasser, Erfrischungstücher, Desinfektionsmittel, Reisezahnbürste. Sie wischt die Fliesen mit den Tüchern ab, so wie sie es gelernt hat. (Manchmal merkt es die Person, die nach ihr das Bad benutzt, wenn sie sich nicht um den Fußboden kümmert.) Sie wäscht sich Hände und Gesicht, spült die Toilette zweimal, putzt sich die Zähne. Und noch einmal. Gurgelt mit dem Mundwasser. Sie öffnet den Badezimmerschrank, ohne hineinzusehen, aus reiner Gewohnheit. Sie kennt das Badezimmer und seinen Inhalt in- und auswendig. Unten: Aderall und Zoloft und Ativan. Mitte: Kiehls Gesichtsreiniger, Molton Brown Lotionen. Oben: grüne Parfums und Trish McEvoy Make-up und ein Vera Bradley-Beutel mit Papier und Gras. Sie nimmt eine Ativan aus der Packung und schluckt sie ohne Wasser. Wieder das Telefon. » SADIE !«
    »Ich komme!«
    Aber sie kommt nicht.
     
    Das hat sie an der Milton Academy gelernt, sich im Badezimmer zu verkriechen, ein perfekter Ort, wirklich, ein Kokon, weit weg von allem. Das spezielle Inseldasein einer Toilette, ein Trost. Die Gleichheit aller Badezimmer, blasse Gelbtöne, blasse Blautöne. Und die
Dinge
in einem Bad, zumal die von Frauen. Nicht die Augen, sondern die Toilettenartikel sind das Fenster zur Seele. Sadie ging zu den anderen nach Hause, nach der Schule, oder in den Ferien in ihre Sommerhäuser – immer eingeladen, jedes Jahr, extrem beliebt bei den Müttern, ein guter Einfluss auf die Töchter, gute Noten und perfekte Umgangsformen, ein Juwel, höflich,
so höflich!
 – und an irgendeinem Punkt verschwand sie dann nach oben, ins Bad, das Bad der Freundin, das der Mutter, noch spannender.
    Das Badezimmer einer Mutter.
    Eine Welt der Verschleierungstaktik.
    Eine Kammer der Geheimnisse, Unsicherheiten, Gerüche, Kristallflaschen mit Sprayballons und babyblaue Döschen, eine unglaubliche Anzahl von Etiketten auf Französisch. Sie drehte dann immer die Deckel ab, roch hieran, roch daran, cremige Lotionen, Parfums und die kleinen, muschelförmigen Seifen. Sie wusch sich die Finger mit Handseife (eine Offenbarung: zu Hause verwendeten sie schwarze Seife für alle Körperteile) und trocknete sie dann an einem kleinen Handtuch mit gesticktem Monogramm ab oder, noch besser, an dem Handtuch hinten an der Tür.
    Sie benutzte immer das Handtuch an der Tür, wenn eins da war, es roch nach Wehrlosigkeit, nach Haut, nach einer Person in einem verletzlichen, wohlduftenden Zustand, nach einem Mädchen am Morgen, nach falschen tropischen Früchten. Manchmal drückte sie das Gesicht in diese Handtücher, und überwältigt von dem Geruch, hätte sie oft am liebsten losgeheult. Immer spähte sie in die Abfallbehälter, die Schränke, die Make-up-Beutel, so viel Krimskrams, und nahm dann irgendetwas mit: eine Art ungeschickte Kleptomanie, nicht so professionell wie die Bulimie, nicht so klinisch ausgeführt und nie etwas Besonderes. Ein Haarband oder Augentropfen oder zusammengedrückte Tuben oder Lipgloss oder kleine Döschen mit Handcreme, mitgebracht aus einem Spa, oder, aber nur einmal, einen Ohrring, ganz untypisch, ein Diamant. Bis jemand »Sadie!« rief oder jemand an die Tür klopfte.
    »Hast du dich im Badezimmer verlaufen?«, fragten die anderen sie dann, ein Lächeln in den Augen, und alle erwarteten, dass sie etwas Kluges sagen würde. Die intelligente Sadie, so nett, so höflich, so niedlich. Wie ein Mitglied der Familie. »Ich hab mich aus Versehen eingeschlossen.« Immer diese Lüge. Unfassbar, dass irgendjemand das glaubte, wirklich, aber alle glaubten ihr.
    An anderen Tagen saß sie einfach nur stumm da oder legte sich in die Badewanne, einfach so, angekleidet, und schaute hinauf zur Decke oder zu den Enten auf den Kacheln, erschöpft von der Anstrengung.
    So wie jetzt.
    Sie sitzt auf dem Toilettendeckel, die Füße angezogen, die Schienbeine umschlungen und das Kinn auf den Knien. Wieder klingelt das Telefon, dann das schrille » SADIE ! TELEFON !« aus der Ferne, aber niemand kommt und klopft. Sie zählt.
    1 , 2 , 3 , 4 , 5 , 6 , 7 , 8 .
    Ein Spiel, das sie mit sich selbst spielt. Oder gegen sich. Das Ziel: Schätze, wie viele Sekunden es dauert, bis sie merken, dass jemand verschwunden ist, dass Sadie nicht da ist. Das hat sie sich damals angewöhnt, in dem ersten Haus, in Brookline, mit den komischen kleinen Treppen und den geheimen Falltüren. Sie versteckte sich im Schlafzimmer neben dem

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