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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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ihre Stimme so ruhig wie immer, »New York«, eine Adresse in der Lafayette Street in Soho, wo er seither hingeht, pünktlich um neun, jeden Abend.
    Nur um sie zu sehen.
    Sechzig Sekunden, nie länger, oft kürzer, nur um vom Gehweg aus alles zu beobachten, um sie zu sehen, wenn sie vorbeieilt, gefärbte bronzene Dreadlocks, schwungvoll wippend, wippend, am Fenster vorbei. Nur um zu wissen, dass sie in seiner Nähe ist. Hineinspähen und dann nach Hause gehen. Komisch, dass ihn noch nie jemand bemerkt oder angemeckert hat: ein schwarzer Mann mit Dreadlocks, am Fenster, ohne Mantel. Aber das ist ja schon immer sein Zaubertrick, da zu sein, ohne da zu sein, seine Gestalt zu verwischen, nicht gesehen zu werden. Davon lebt er. Von der Kunst, nicht da zu sein. Mit Sangna, die dableibt, die Geld nach Yale schickt und zu Vernissagen geht und Interviews verweigert und überhaupt am Steuer des Mutterschiffs in Shoreditch sitzt (in ihrem Loft, früher seinem) und die Gemälde für astronomische Summen verkauft, weil sich das Gerücht verbreitet, er sei in der Badewanne verblutet, das tragische Ende des
It-Boys
der Kunstwelt, eine Art düster komischer Kommentar zum Wesen dieser Szene, wo nichts so spannend ist wie der frühe Tod eines Künstlers.
    Aber wie kann er es ihr sagen – jetzt, da sie vor ihm steht, die verschwommene Erscheinung am Fenster nun aus Fleisch und Blut –, wenn sie sagt:
Du bist hier, so nah, ohne anzurufen, schon die ganze Zeit, in
Brooklyn
, gleich auf der anderen Seite der Brücke?
Er kann nur sagen, dass das so nicht stimmt, dass er eigentlich gar nicht hier »lebt« oder dass er hier lebt, ohne zu leben, womit er meint, ohne zu leiden und ohne Leid zuzufügen. Das ist alles, was er will, und alles, was er zu erreichen versuchte, als er sich in beide Handgelenke ein feines T geritzt hat. Er suchte einen Ausweg aus dem Leid – für sie, die so voller Leben ist, die schon immer ganz auf der Erde lebt, in der Welt, in ihr und von ihr, weder geerdet noch Bodenhaftung gebend, sondern selbst der Boden, die Leinwand selbst.
    »Hier lebst du also?«, sagt sie, späht hinter ihn, dann schaut sie ihn an.
    Er schüttelt den Kopf. »…«, dann: »Kommt rein.«
     
    Später, im Haus, wieder drei versammelt, und alle pusten auf den Blättertee (und auf andere Dinge, heiße Dinge, um die Qual abzukühlen, so wie man ein Baby beruhigt,
schschsch
), – da beginnt Sadie zu erklären. »Ich wollte dich anrufen«, sagt sie verlegen zu Kehinde. »Aber ich hatte keine Nummer. Ich habe nur das da.« Sie hält die Karte hoch, die er ihr zum Geburtstag gemacht hat, auf der einen Seite eine Zeichnung mit schlichten Pastellfarben, braun und lila und orange, ihr Gesicht, angedeutet, Nahaufnahme, auf der anderen Seite in seiner Handschrift:
happy birthday, baby s. D
ie Karte hat er ihr per Express und in Plastik gehüllt geschickt, und auf das Etikett hat er, wie verlangt, die Adresse des Absenders gekritzelt. »Also habe ich die Geschichte mit der Seminararbeit erfunden, keine Ahnung, aber irgendwie stimmt das ja, wir müssen ja welche schreiben, statt einer Prüfung, und die Professorin hat gesagt, wenn wir nach Freitag noch mehr Zeit brauchen, dann können wir die Unterlagen beim Portier in ihrem Gebäude in New York abgeben, aber klar, ich habe gelogen« – mit einem kurzen Blick auf Taiwo – »weil ich gedacht habe, du kommst nicht mit, wenn ich die Wahrheit sage« – mit einem kurzen Blick auf Kehinde – »du versteckst dich ja irgendwie hier, und kein Mensch kann dich anrufen …« In der Art redet sie weiter, aber Kehinde hört kein Wort, wegen der Stille, wegen des Schweigens, das sich manchmal auf seine Zunge und seine Ohren legt. Wie eine Mutter, die schützend die Ohren ihres kleinen Kindes bedeckt, wenn etwas in seiner Nähe zu viel Krach macht, oder die seine Augen gegen das Sonnenlicht abschirmt. Zwei sanfte stille Hände, die auf seinem Mund und seinen Ohren ruhen. »… Seid ihr sauer?« Sadie runzelt die Stirn und schaut erst Kehinde an, dann Taiwo. »Was ist mit dem los?«
    »Gar nichts«, sagt Taiwo und trinkt einen Schluck Tee.
    »Ich bin nicht sauer auf dich«, sagt er in seinem Kopf.
    »Warum sagst du nichts?«
    »Ich weiß nicht, warum«, sagt er in seinem Kopf.
    »Er weiß es nicht.« Taiwo nickt Sadie zu, mit einer auffordernden Handbewegung: »Red weiter.«
    »Wir sind ja noch gar nicht bis zum schlimmen Teil gekommen«, seufzt Sadie. Sie schaut Kehinde mitfühlend an. Sie sieht aus

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