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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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wie ihr Vater. Die schrägen Augen in Tälern aus Knochen. Kehinde hat sie immer irgendwie deswegen beneidet, Sadie und seinen Bruder, dass sie den Menschen ähnlich sehen, von denen sie kommen: Olu eine dunklere Fola, klassisch Yoruba, Sadie ein hellerer Kweku, klassisch Ga. »Ursprungs-kompromisslos«, nennt er diese Art von Gesichtszügen, Kennzeichen eines Volkes mit zähen Genen oder sonst das Ergebnis eines Prozesses der Verfeinerung und Verstärkung durch Jahrhunderte der Fortpflanzung. Äthiopische Augen, indianische Wangenknochen, die schwarzen Haare/die blauen Augen der Waliser, nordisch blasser Teint – all das ist eine Dokumentation, denkt er, die visuelle Aufzeichnung der Geschichte eines Volkes, groß geschrieben, in der Welt. Dass er bei seiner Mutter und bei seinem Bruder die gleiche irgendwie quadratische Mundform, die hoch gewölbten Brauenknochen und die majestätische Hakennase vorfindet, die er auch bei rituellen Masken sieht, welche im 16 . Jahrhundert von Kunsthandwerkern aus Elfenbein geschnitzt wurden – dass das Gesicht sich wiederholt, das immer wieder gleiche Gesicht, über Generationen und Ozeane und Liebende und Kriege hinweg, wie die Matrix eines Graphikers, eine gute Matrix, eine, die man immer wieder verwenden kann – für Kehinde ist das ein Wunder. Er beneidet sie alle darum. Seine Geschwister und seine Eltern gehören zu einem Volk, sie tragen den Stempel der Zugehörigkeit.
    Er und Taiwo nicht. Ihre Gesichtszüge sind auch ein Kennzeichen, ja, aber nicht für ein Volk, nicht für die Kunstgeschichte des Volk-Seins, konstant und stark, sondern für eine kurze, chaotische, weniger wichtige Geschichte von Menschen, klein geschrieben, von zweien jedenfalls, die sich irgendwann geliebt haben. Als Kinder haben sie beschlossen, dass sie Aliens sein müssen oder adoptiert wurden, trotz des lustigen Fotos von ihrer Mutter, das im Flur hing (Fola wahnsinnig schwanger, neben einem grinsenden Mr Charlie mit der rosaroten Doppeltomate, die sie in seinem Garten angepflanzt hatte). Erst später, mit dreizehn, in Lagos, als sie gerade bei Onkel Femi angekommen waren und in den Salon geführt wurden, da sahen sie, auf der Schwelle und starr vor Staunen, das Gesicht, von dem ihres kam, weiß, an der Wand.
     
    Die Frau hinter ihnen, Tante Niké, schob sie weiter, die rubinroten Krallenfingernägel gruben sich in ihre Haut. »Was ist denn los?«, fragte sie – oder besser spuckte sie aus: feindselige Zischlaute, ein starker Lagos-Akzent, dazu passend das böse Gesicht. Niké drängelte und schubste ohne Pause, seit sie am Flughafen gelandet waren, und sie waren beide stumm vor Staunen, was die Tante für Ehrfurcht hielt, während sie ihre Koffer zog. »Hier entlang, Kinder«, rief sie und stieß sie in den Mercedes. »Fasst das Leder ja nicht an,
ehn
, eure Finger sind schmierig.«
    Lagos hinter dem Fenster war nicht so, wie Kehinde es sich vorgestellt hatte, nicht üppig, nicht wie die Tropen, knallig gelb und grün. Lagos war grau, städisch-grau, die Luft versmogt und der Himmel bedeckt und durch hohe Gebäude verbaut, ein schmutziges Hongkong. Der Highway vom Flughafen war verstopft von riesigen Lastern und rostigen Okadas und zwischendurch immer wieder ein glänzender Mercedes, alle hupten, ein ununterbrochenes Gejaule der Empörung, die ganze Stadt sang eine Arie der Qual. Die Palmen wirkten erschöpft. Der Hafen war grau, die gleiche Farbe wie der Himmel, voller Lastkähne und Yachten. Als sie über die Brücke fuhren und die Insel Ikeja verließen, um aufs Festland zu gelangen, sah Kehinde ein riesiges Schild: THIS IS LAGOS . Nicht
Willkommen in Lagos,
nicht
Lagos heißt Sie willkommen
, sondern einfach nur THIS IS LAGOS .
    »Das ist Lagos«, zischte Niké.
    Er fand sie grotesk, diese Tante Niké, von der er noch nie gehört hatte und die ihre Haut mit chemischen Mitteln zu einem blassen Grau-Beige gebleicht hatte und deren gelbbraune Perückenhaare glatt auf die Schultern fielen. Roter Lippenstift und Rougepuder ließen ihren Mund und ihre Wangen blutig erscheinen, aber die schwarzen Augen verrieten sie – zeigten den angehäuften, abgestandenen Kummer, wie ranzige Pfützen. Grinsend kniff sie ihn in die Wange und zog. »Hübscher Junge, was?« Er hatte keine Angst vor ihr, da nicht, noch nicht.
    Sie fuhren durch das Tor zum Apartment ihres Onkels, das von außen nicht nach viel aussah, vier oder fünf Stockwerke. Erst als sie die Vorhalle durchquerten und dann den Aufzug

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