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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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meine ich.«
    Er stellte sich diesen Bruder als eine männliche Version von Fola vor, also als eine ältere Version von Olu. Eine Art Yoruba-Version von Daddy Warbucks. Aber was er nun im vierten Stock von der Schwelle aus sah, war eine Gestalt mit erstarrten Augen und erstarrten Füßen, die sich nicht bewegen wollten, er war weder kahl noch kräftig wie Daddy Warbucks, sondern schlank und ruhte lässig auf einem Leoparden-Wasserbett. Die Absurdität des Bildes – Femi, der sie erwartete, wie ein Schah seine Hofdamen erwartet, mit reifen Trauben und in einem Outfit, das zu Fela Kuti auf dem Höhepunkt der siebziger Jahren gepasst hätte (es war 1993 ), in diesem Raum mit seinem Dschungel aus Palmen in Kübeln und Zebrafell-Teppichen auf dem weißen Marmorfußboden – diese Absurdität fiel Kehinde gar nicht auf. Weil er so schockiert war von dem Porträt, das düster und bedrohlich über dem Kamin hing und auf das Leoparden-Bett hinunterblickte.
    Er hatte sie noch nie gesehen – eine Frau, eine junge Frau, eine atemberaubend schöne Frau –, noch nie in seinem Leben, und er konnte buchstäblich seine Augen nicht von ihren Augen nehmen, die seine Augen waren und Taiwos Augen. »Wer …? W-wer ist das?« Taiwo zitterte, griff instinktiv nach Kehinde. Er drückte ihre Hand, spürte ihr Erschrecken und ihre Angst. Sie kam näher und drückte sich an ihn. Unverwandt starrten sie beide auf das Bild und gingen keinen Schritt weiter.
    Die Gestalt bewegte sich, richtete sich auf, drehte den Oberkörper so, dass auch er das Bild betrachtete. Man hörte ein lautes, schrilles Lachen, ohne Fröhlichkeit, ohne Wärme. Entzückt klatschte er in die Hände. »Ihr
wisst
das nicht?« Er sprach mit einem Akzent, der ähnlich war wie der ihrer Mutter (eine starke Prise »England«, eine Spur »Äquator«), und er sprach leise, fast zärtlich, wie jemand, der gelernt hat, dass in einem Land der Schreihälse ein Mann der leisen Töne König ist. »Niké, wer ist das?« Er wandte sich zu seiner Frau, die immer noch die Schultern der Zwillinge wie Lenkstangen umklammerte. »Mmm?« Sein Blick fiel auf Kehinde, der den Schatten spürte, sich von dem Porträt löste und den Blick erwiderte.
    Der Onkel musterte ihn, erhob sich lächelnd, doch seine Augen wurden hart, dunkel, was gar nicht zu seinem Lächeln passte, feindselig, lauernd, wie jemand, der ein Kind anlockt, das in einem Einkaufszentrum allein gelassen wurde, hart, ein schwarzes Funkeln. Im Stehen wirkte er imposant, nicht attraktiv, sondern wie jemand, der auffällt, geschmeidig wie eine Frau, mit langen, schmalen Gliedmaßen, ganz gerade, mit sehnigen Muskeln, entspannt, wie ein Tänzer, aber alles andere als schön, nicht im Gesicht. Das Gesicht bestand nur aus Ecken und Kanten, die Augen mit den dicken Lidern zu weit offen und rot umrandet, ein stumpfer, trüber Braunton, eine nach oben zeigende Nase, ein zu tief sitzender Mund, die Proportionen waren das Problem, schmale Wangen, viel zu eng für die breiten Gesichtszüge.
Fast hässlich
, dachte Kehinde, obwohl er das Wort sparsam und mit Respekt verwendete, ähnlich wie »schön«, genauso ehrfurchtsvoll. Sie war etwas Kostbares, die Hässlichkeit, beim Menschen, in der Natur. Er registrierte das immer auf Flughäfen, in Zügen: dass die meisten Leute ganz okay aussahen (wenn auch unscheinbar), mit harmlosen Gesichtszügen, die gut komponiert waren oder jedenfalls ziemlich gut. Er merkte, dass man nach Hässlichkeit suchen musste, nach natürlicher Hässlichkeit, so wie nach natürlicher Schönheit, und was noch vertrackter war: Kaum hatte er sie gefunden und still für sich ein Ding als hässlich bezeichnet, da entdeckte er auch schon in der Hässlichkeit eine Art von Schönheit. Er starrte auf ein Gesicht, wie auf diese
Magic Eye
-Stereogramme, bei denen dreidimensionale Bilder aus zweidimensionalen auftauchen, und schon tauchte aus dem Nichts die Schönheit auf, eine Verzerrung, und danach konnte er die Hässlichkeit nicht mehr erkennen. Er starrte auf seinen Onkel, kniff die Augen zusammen, versuchte, das Bild einzufrieren, die Unausgewogenheit der Züge und die Bleiche der Haut, aber es passierte die Schönheit, wie immer. Die optische Täuschung. James Baldwin verwandelte sich in Miles Davis.
    »Und du? Was glotzt du so? Gefällt es dir? Mein Outfit?«
    Kehinde merkte jetzt erst, wie gebannt er starrte, und blinzelte.
    »Kannst du nicht sprechen?« Tante Niké rüttelte ihn an der Schulter, aber Femi lachte.

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