Diese eine Woche im November (German Edition)
wehrt sich nicht länger. Er und Julia gleiten in die Öffnung. Keine Wand mehr, kein Gestein, nur noch mächtige schwarze Stämme. In dichten Abständen steht der Unterwasserwald. Das sind die Pfähle, auf denen meine Stadt ruht, denkt Tonio. Wir sind draußen!
Die Luft wird knapp. Ein bisschen noch, denkt er. Aus dem Wald hinaus, aufwärts, zum Ufer. Die Luft, der Nebel, vielleicht die Sterne.
Ihre Hände sind nicht mehr da. Er hat nicht aufgepasst. Wie lange schon? Tonio begreift zu spät, sie hat ihn losgelassen. Er dreht sich um, tritt mit den Beinen, schickt das Licht der Lampe aus. Sie ist verschwunden. Julia! An diesem Ort fort sein heißt tot sein. Tonio schwimmt nach unten. Immer undurchdringlicher wird das Gemisch aus Schmutz und Algen. Gleich muss er den Grund der Lagune erreichen, den Schlamm, das Totenbett.
Da schwebt sie. Ihr Haar breitet sich im Wasser aus, leblos treiben ihre Arme. Er packt die kleine Hand und zerrt sie nach oben. Ein Schwall aus Tang kreuzt seinen Weg. Schon wird es heller, da ist Licht.
Tonios Kopf schießt aus dem Wasser, er schaut ins milde Licht der Straßenlaterne. Sofort holt er ihren Kopf nach oben. Leblos ist sie und schwer. Schwimmend zieht er sie zur nächsten Treppe, die ins Wasser mündet.
Er fällt auf Stein und holt das Mädchen ins Trockene. Legt sie auf den Rücken. Er weiß nicht, was er tun soll, hat bloß Filme gesehen, in denen Ärzte und Helden so etwas tun. Tonio nimmt ihre Arme und hebt sie über ihren Kopf. Jetzt nach unten. Noch einmal und wieder, immer schneller. Er dreht sie auf die Seite, damit das Wasser aus dem Mund läuft. Ihre Lippen sind leblos. Keine Reaktion. Er dreht sie auf den Rücken. Presst seine Lippen auf ihre und beatmet sie. Hektisch suchen seine Finger die harte Stelle in der Mitte ihrer Brust und drücken zu. Vielleicht bricht er ihr die Rippen. Lieber eine gebrochene Rippe als der Tod.
Sie liegt da, ihr Gesicht ist so traurig, kein Ausdruck ist darin. Ein plötzliches Schluchzen schüttelt Tonio, weinend sinkt er über ihr zusammen. Wieso? Wer bestraft Julia so schrecklich, so endgültig? Wütend bäumt er sich auf und schlägt mit beiden Fäusten auf ihre Brust.
» Lebe, verdammt noch mal, lebe! «
Ein Schwall Wasser trifft ihn ins Gesicht. Ein Röcheln entfährt ihrem weit offenen Mund. Sie spuckt, ihr Körper windet sich, sie schlägt die Augen auf.
» Au « , sagt Julia. » Das hat wehgetan. «
» Es hat geholfen. « Tonio flennt vor Freude.
» Warum weinst du? «
» Nur so. «
Ihr Blick verändert sich, wird groß und ungläubig. » Du hast mir das Leben gerettet, nicht wahr? «
Er zuckt die Schultern. » Irgendwie – ja. «
Langsam hebt sie die Arme und schlingt sie um seinen Hals. » Das werde ich dir eines Tages heimzahlen. «
Tonio sitzt da und spürt ihre Umarmung. So ist das mit dem Glück, denkt er und versucht nicht, das Weinen anzuhalten. Es schüttelt ihn am ganzen Körper. So möchte er ewig sitzen und ihren Atem an seinem Ohr spüren.
27
I ch muss zu Papa « , flüstert Julia.
Zu Tode erschöpft. Die kalten Stufen. Sie hat einen Schuh verloren. Den andern zieht sie aus.
» Er ist nicht tot, da bin ich sicher. « Tonio reibt Julias Arme.
» Glaubst du? «
» Bestimmt haben sie ihn mitgenommen. «
» Wo sind wir? « Ihre Zähne schlagen aufeinander.
» Auf der Rückseite des Hauses. Die Polizeiboote müssen noch in der Nähe sein. « Er will aufstehen.
» Nein. « Sie hält ihn fest.
» Was? «
» Nicht zur Polizei. «
» Warum nicht? «
» Er hat mich gestoßen. «
» Wer? «
» Der Ispettore. «
» Du spinnst. «
» Ich habe den Stoß gespürt. «
» Weshalb sollte er das tun? «
» Mein Vater hat befürchtet – « Sie überlegt. » Dass Commissario Gianfranco etwas passiert ist. Gianfranco ist der Vorgesetzte von Doppio. Verstehst du jetzt? «
» Nein. «
» Er wollte mich zum Schweigen bringen. «
» Glaubst du, er steckt mit den Trucidi unter einer Decke? «
» Ich glaube nicht. Ich wurde fast ermordet. «
» Deine Lippen sind blau. « Tonio entfernt ein paar Algen aus ihrem Haar. » Wir müssen aus den nassen Sachen raus. «
» Ins Hotel traue ich mich nicht. «
» Wir gehen zu meinem Freund. «
» Zu wem? « Abwartend sieht sie ihn an.
» Vertrau mir. Mein Freund hat eine ganze Menge mehr drauf als die Polizei. « Er hilft ihr hoch. Sie ist so schwach, dass sie den Arm um seine Schultern legt. Sie ist barfuß, es ist November.
» Ich werde mich so was von verkühlen.
Weitere Kostenlose Bücher