Diese eine Woche im November (German Edition)
umgekehrt.
» Wir haben’s eilig « , antwortet er kühl. » Besprechen wir das lieber ein andermal. «
Verwundert sieht sie ihn an. » Du bist schon ein komischer Heiliger. «
» Komisch? War ich noch nie. « Er zeigt auf ihre Füße. » Wird es gehen? «
» Klar. «
Schweigend laufen sie weiter.
28
E s ist sehr früh, sehr spät. Die dunkelste Stunde der Nacht. Pippa und Rinaldo schauen übers Wasser, auf ihre Stadt. Sein Leben spielt sich vorwiegend im Inneren ab, in den Eingeweiden der vernetzten Welt. Aber sogar in seinem Schneckenleben weiß er, es gibt ein Draußen. Manchmal kommt der Moment, an dem er hinausmuss. An dem er die freundliche, stille Welt vor seiner Haustür sehen will, die schlafende Lagunenstadt.
Es ist gefährlich, aufs Flachdach zu steigen. Es ist die Schwachstelle seines Bunkers. Wenn jemand davon wüsste, könnte er hier eindringen. Rinaldo hat Pippa mitgenommen. Sie ist still, in sich gekehrt. Sie und Tonio, Julia und Rinaldo sind in etwas Unbekanntes vorgestoßen. Pippas Lage ist am schlimmsten. Sie ist verliebt. Ihr Freund, der Komplize, mit dem sie am Rand der Gesellschaft lebt, bedeutet ihr alles. Pippa ist jung, aber sie ist schon eine Frau. Sosehr sie ihre Weiblichkeit noch verbirgt, liebt und begehrt sie Tonio. Dass er sich in eine andere verliebt hat, ist dabei nicht das Schlimmste. Schwerer wiegt, dass er Himmel und Hölle für seine neue Liebe in Bewegung setzt und dass Pippa ihm sogar noch dabei hilft. Das ist das Schreckliche an der Liebe, sie zieht uns in ihr Dickicht. Wo wir Glück erwarten, hält sie Verwicklungen bereit, wo sie uns befreien soll, stößt sie uns in den Abgrund der Gefühle. Ob wir 16 sind oder 60, wenn es die Liebe will, macht sie uns hilflos.
» Was erwartest du vom Leben, Pippa? « Rinaldo hat eine ganze Weile nicht gesprochen.
» Wen interessiert das schon, was ich erwarte? «
» Mich interessiert es. Du kannst nicht dein ganzes Leben lang den Leuten ihr Geld abnehmen. «
» Das sagst ausgerechnet du? Für dich mache ich es doch. «
» Nein. Du stiehlst, weil du es für die einfachste Methode hältst, an Geld zu kommen. «
» Stimmt das nicht? « Sie legt die Hände auf das Geländer und stützt ihr Kinn darauf.
» Du bist sechzehn. Wie siehst du dich, sagen wir, mit fünfundzwanzig? «
» Mit fünfundzwanzig habe ich mein eigenes Geschäft. «
» Woher willst du das Geld dafür nehmen? «
» Ich spare. «
» Du willst so lange mit geklauten Brieftaschen durch Venedig rennen, bis du genug Geld beisammenhast? «
» Was spricht dagegen? «
» Früher oder später kriegen sie dich. Bist du erst vorbestraft, ist dein Leben verpfuscht. «
Pippa schlägt aufs Geländer. » Wieso kommst du ausgerechnet jetzt damit? «
Der Wind weht Rinaldos Haar in die Stirn. » Stehlen kann zur Sucht werden. Bist du schon süchtig? «
» Es ist ein Job, nichts weiter. «
» Bald ist Schluss mit diesem Job, Pippa. «
» Warum? «
» Weil ich kein Sklaventreiber bin. Glaubst du, ich schaue seelenruhig mit an, wie du vor die Hunde gehst? «
» Dann verstehe ich nicht, weshalb wir das überhaupt tun. «
Der Himmel ist pechschwarz, doch die schlafende Stadt strahlt Licht ab. Man erkennt Kirchtürme, dazwischen die Silhouette eines Baumes. Venedig ist grüner, als man glaubt. In Innenhöfen, in kleinen Gärten und Parks haben Bäume ihre Wurzeln geschlagen. Noch hat der Frost die Stadt verschont, die Bäume tragen ihr Laub. In ein paar Stunden wird die Morgensonne darin glitzern.
» Wir tun es, weil die Welt ungerecht eingerichtet ist « , antwortet Rinaldo. » Die Dinge auf diesem Planeten müssen neu geordnet werden. Wir, die Reichen, müssen endlich etwas abgeben an diejenigen, die in unvorstellbarer Armut leben. Das Problem ist: Die Reichen machen das nicht freiwillig. Also helfe ich nach. « Er sieht sie an. » Damit wir uns richtig verstehen, ich finde Diebstahl grundsätzlich falsch. Aber ich glaube an die Umverteilung der Dinge . Dafür kämpfe ich. «
» Das sagst du einer Taschendiebin? «
» Du darfst keine Diebin bleiben. Wenn diese Sache vorbei ist, überlegen wir, welche Ausbildung für dich richtig wäre. «
In Pippas Augen ist das Staunen eines Mädchens, das glaubte, keiner sorge sich um sie. Und da ist dieser weißhaarige Mann, der sagt, dass ihm etwas an ihr liegt. Rinaldo schaut über die Dächer. » Unser Freund Tonio hat zum ersten Mal sein Herz verloren. Das tut weh, nicht wahr? «
» Woher weißt du das? «
» Auch wenn
Weitere Kostenlose Bücher