Diese eine Woche im November (German Edition)
bringen. Nicht ohne Julia, denkt er, lässt los und hält die Luft an. Der Strudel packt ihn. Während er an Mauern vorbeitreibt, leuchtet er in alle Richtungen. Die Lampe taugt etwas, selbst die dreckstarrende Lagune erhellt sie ein gutes Stück. Ich finde sie, denkt er. Ich bringe sie in Sicherheit.
Tonio fühlt seine Kräfte schwinden. Das Wasser hat weniger als 10 Grad. Seit Stunden ist er Julia auf der Spur. Er weiß nicht, wann er zuletzt geschlafen hat. Wäre es nicht wunderbar, sich hinabsinken zu lassen? Dort unten hört das Treiben auf, dort ist Grund, da liegt man, Atmen ist nicht mehr nötig. Das Grüne, das Dunkle deckt einen zu.
Aufgeben? Niemals. Unter Wasser schreit Tonio auf. Mit dem letzten Rest Luft steigt er höher und sucht den nächsten Rastplatz. Da ist nichts als Wasser. Die Decke muss geflutet sein. An den Ziegeln zieht er sich entlang. Kunstvoll wurden sie ins Gewölbe eingefügt, einer stützt den anderen. Ein Segment nach dem anderen sucht der Junge ab, in der Hoffnung auf ein wenig Luft.
» Und jetzt schwimm! «
Wer sagt das, wer spricht zu ihm?
» Ich kann nicht « , schreit Tonio.
» Du musst. Ich helfe dir nicht. «
» Wieso nicht, Papa? « , ruft Tonio dem Mann über Wasser zu.
» Weil ich selbst nie schwimmen gelernt habe « , antwortet der Vater. » Willst du überleben? Dann schwimm. «
Vor zehn Jahren war das, Tonio wird es nie vergessen, als der Vater ihm, betrunken wie meistens, das Schwimmen beigebracht hat. Ein warmer Maitag, ein Anlegesteg im Dorsoduro, der Vater in bester Laune. Ehe Tonio wusste, wie ihm geschah, warf der Alte ihn ins Wasser. Von allen Seiten glitzerte es. Rund um Papa lachten Leute, die dem prustenden Kleinen zuschauten.
» Hilf … mir … « Immer wieder ist Tonio abgesoffen. Der Vater rief: » Schwimm! Nur so lernst du’s! «
Er hat es gelernt. Er hat eine Menge Wasser geschluckt, er hasste seinen Vater, aber seitdem kann er schwimmen.
Ich kann schwimmen, denkt Tonio, als seine Arme schlaff werden. Die Beine sinken hinab. Das ist kein Gedanke mehr, spürt er, das ist kaum noch ein Schimmer. Und auch der wird gleich erlöschen.
Da sieht er das Helle. Seine Lampe schickt ihr Licht durchs Wasser. Dort bewegt sich ein Fleck. Julias Jacke. Keine Luft! Keine Kraft. Was Tonio antreibt, ist die Liebe. Er hat sie gefunden, Herr im Himmel, in all dem dunklen Verhängnis hat er das Mädchen wiedergefunden! Irgendetwas in Tonio kann noch schwimmen, etwas in ihm folgt dem Licht. Er schwimmt zu ihr. Wenn Julia noch nicht tot ist, dann braucht sie Luft. Bei ihr wird er Luft finden.
Sein Kopf taucht auf, er reißt den Sauerstoff in seine Lungen. Bei aller Qual ist es das Schönste, was er seit Langem gefühlt hat. Luft kriegen, weiterleben.
Sie klammert sich an der Decke fest. Sie sinkt nicht. Doch in ihr ist kaum noch Leben.
» Julia. Julia! «
Sie schlägt die Augen auf. Die schönen blauen Augen blicken gebrochen. Als ob sie durch ihn hindurchschaut. Ihre Lippen bewegen sich.
» Toto « , flüstert sie.
» Ja, ich bin’s, Toto. « Er lacht.
» Was machst du hier? «
» Ich passe auf, dass dir nichts geschieht. «
» Wieso passt du denn auf mich auf? «
» Weil ich dich liebe. «
Der Ort, die Zeit sind schlecht gewählt, um das zu sagen. Er sagt es, weil es alles ist, was zählt. Dort oben hätte er wahrscheinlich nicht den Mut dazu.
» Ich kann nicht mehr « , flüstert sie.
» Jetzt sind wir zu zweit. «
» Ich kann nicht. Es ist so kalt. «
» Du kannst. Halt dich an mir fest. « Er dreht ihr den Rücken zu und zieht ihre Arme um seinen Leib.
» Sie haben das Haus … Sie haben Papa … «
» Spar deine Kraft. « Er legt ihre Hände auf seinen Brustkorb. » Luft holen. «
» Weißt du, wo es rausgeht? «
» Wir folgen der Strömung. Bereit? «
Statt einer Antwort klammert sie sich an ihm fest.
Tonio nimmt alle Kraft zusammen und schwimmt. Er spürt den Sog, spürt aber auch die Schwere des Körpers, der an ihm hängt. Ihr wunderbarer Körper. Unsere erste Umarmung, denkt er. Seine Beine schlagen kräftig. Die Strömung zieht ihn voran. Alles wird gut, denkt Tonio. Jetzt muss es gut werden.
Plötzlich geht es abwärts. Wieso in die Tiefe? Er will ins Freie, der Strudel reißt ihn hart nach unten. Kein Widerstand hilft. Er nimmt die Lampe in den Mund und sieht, worauf sie zutreiben. Die alte versunkene Mauer. Ein Loch tut sich auf, nicht durch den Zahn der Zeit geschaffen. Das Loch zeugt von Gewalt. Dort verschwindet alles. Tonio
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