Diese Lippen muss man küssen
Spannung bestanden, die er sich nie hatte erklären können. In den letzten Wochen hatte sie sogar noch zugenommen, und endlich konnte er diese Gefühle deuten. Er hatte sich in Abby verliebt. Und wahrscheinlich war er irgendwie sein ganzes Leben lang in Abby verliebt gewesen, hatte zumindest immer etwas Besonderes für sie empfunden, hatte es sich nur nicht eingestehen mögen.
Und nun? Was sollte er jetzt tun? Er war hier und sie in Seattle. Da blieb nur eins.
Schnell zog er das Handy aus der Tasche seines Smokings und rief bei sich zu Hause an. Als Sadie antwortete, hielt er sich nicht mit langen Vorreden auf. „Sadie, bitte Rick, beim Flughafen anzurufen und für mich einen Platz in der ersten Nonstop-Maschine nach Seattle zu buchen. Und du, pack bitte ein paar von Sunnies Sachen zusammen und was wir noch so brauchen könnten. Ich nehme sie mit.“
„Wie lange bleibst du weg?“
„Das weiß ich noch nicht. Aber eins ist sicher: Wir kommen erst zurück, wenn Abby mit uns kommt.“
9. KAPITEL
Fröstelnd zog Abby den dicken Pullover fester um sich herum und starrte aus dem großen Fenster auf den Lake Washington. Ein Seeadler erhob sich mit einem Fisch im Schnabel in die Luft, aber Abby schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Der kleine Jet war in den ersten Morgenstunden gelandet. Obgleich sie direkt ins Bett gegangen war, kaum dass das Taxi sie vor der Tür abgesetzt hatte, hatte sie nicht schlafen können. Sie seufzte leise. Daran würde sie sich wohl in der nächsten Zeit gewöhnen müssen.
Sie war schließlich aufgestanden und hatte angefangen, die Laken von den Möbeln zu entfernen, die sie als Schutz vor Staub bei ihrem letzten Aufenthalt darübergelegt hatte. Dann hatte sie ihre Kleidung gewaschen, die schon zu lange unbenutzt im Schrank gehangen hatte, und hatte sich ein Auto gemietet. Allerdings plante sie, ihren eigenen Wagen, mit dem sie in Dallas zum Flughafen gefahren war, überführen zu lassen. Das würde jedoch ein paar Tage dauern.
Seufzend wandte sie sich von dem Fenster ab und ging in die Küche, um sich noch einen Kaffee zu holen. Sie hatte ihr schwimmendes Haus immer geliebt, besonders den Blick über den See. Aber jetzt erinnerte sie alles an Brad. An den See außerhalb von Royal, wo er sie das erste Mal geküsst hatte. Damals waren sie beide erst sechs Jahre alt gewesen, aber irgendetwas musste wohl an diesem Kuss dran gewesen sein. Denn er hatte sie für ihr Leben gezeichnet.
Jahrelang hatte sie die Nervosität und Anspannung, die sie jedes Mal spürte, wenn sie in Brads Nähe war, damit erklärt, dass sie beide ehrgeizig waren und keine Herausforderung scheuten. Beide wollten unbedingt gewinnen, wenn sie gegeneinander antraten, in welcher Disziplin auch immer. Doch nun hatte sie erkannt, dass sie damit seit ihren Teenagerjahren überspielen wollten, was sie wirklich für den anderen empfanden. Sie fühlten sich zueinander hingezogen, standen unter sexueller Spannung, sobald sie zusammen waren …
Warum war sie nicht früher darauf gekommen? Warum hatte es so lange gedauert, bis sie sich eingestehen konnte, Brad mit Leib und Seele zu begehren?
Mit dem Kaffeebecher in der Hand rollte sie sich auf der Couch zusammen, schloss die Augen und versuchte, ihre Gefühle zu sortieren. Sie hatte Richard geliebt, und wenn er nicht gestorben wäre, wäre sie ganz sicher mit ihm alt geworden. Er war ihr bester Freund gewesen, ihr Vertrauter, ihr Bollwerk gegen die Welt. Sie hatten sich so gut verstanden, dass sie die sexuelle Leidenschaft in ihrer Ehe nie vermisst hatte. Jetzt erst wurde ihr klar, dass sie ihn geheiratet hatte, weil er anständig und verlässlich war, ein Mann, der sie liebte und bestimmt nicht wegen einer anderen Frau verlassen würde. Wie es ihr Vater getan hatte, als er sie und ihre Mutter verließ.
Die Beziehung zu Brad war das krasse Gegenteil. Sie waren keine Freunde im üblichen Sinn gewesen, und hätten es auch nie werden können, da war sie sich ziemlich sicher. Ihr Leben lang hatte er sie dazu aufgefordert, mehr von sich zu verlangen und ihre Ziele ständig höherzustecken. Die Leidenschaft, die sie verband, würde nie dazu führen, dass sie ein ruhiges Leben miteinander führen könnten. Das glühende Verlangen, das sie empfand, wenn sie mit ihm zusammen war, und die Sehnsucht nach ihm, wenn sie getrennt waren, waren Gefühle, die sie in dieser Intensität noch nie empfunden hatte. Und genau das band sie an ihn, das genoss sie, denn sie hatte sich nie zuvor so lebendig
Weitere Kostenlose Bücher