Diese Sehnsucht in meinem Herzen
immer er sich gerade aufhielt. Doch auf einmal ging die Haustür auf, und da stand er schon – direkt vor Nate. „Entschuldige, aber der Summer geht nicht, also musste ich erst nach unten kommen, um dir aufzumachen. Sag mal… was machst du eigentlich hier? Warum bist du nicht bei der Arbeit? Bist du krank?“
Nate drückte sich an seinem Bruder vorbei durch die Tür und ging die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Dort nahm er einige Zettel vom Wohnzimmersofa und ließ sich auf die Sitzfläche fallen. Dann schloss er die Augen.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“ fragte Derek, der inzwischen auch in die Wohnung gekommen war. „Sie haben dich doch wohl nicht etwa gefeuert?“
Nate lachte hart auf. „Nein, obwohl ich damit die Familientradition fortsetzen würde.“
„Bist du krank?“
„Nein, nicht krank“, murmelte Nate. „Bloß ganz schrecklich müde. Darf ich wohl hier schlafen?“
„Sieht ganz so aus, als würdest du das längst tun“, gab Derek zurück. Und bevor Nate ganz in das Reich des Schlafes entschwand, glaubte er, Derek sagen zu hören: „Du musst wirklich müde sein. Hast ja noch nicht mal versucht, mein Wohnzimmer aufzuräumen…“
Am ersten Schultag nach den Ferien freute sich Josey möglicherweise noch mehr als die Kinder darüber, dass endlich die Mittagspause begann. Nachdem sie erst ein paar Stunden vorn in der Klasse gestanden hatte, fühlte sie sich schon furchtbar müde. Vielleicht wurde sie ja langsam alt. Sie schickte die Schüler in die Cafeteria und ging zurück ins Klassenzimmer.
Ein einziger Schüler fehlte heute in ihrer Klasse: Mike Crowley, der kleine Junge, dessen Mutter in den Sommerferien mehrmals die Nachhilfestunden abgesagt hatte. Und die paar Male, die er tatsächlich erschienen war, wirkte er unruhig und unkonzentriert. Das machte Josey Sorgen, besonders da er an sich ziemlich aufgeweckt zu sein schien. Sie hatte beschlossen, Mike dieses Jahr ganz genau zu beobachten – aber wie sollte sie das tun, wenn er nicht zur Schule kam?
Im Moment konnte sie nichts unternehmen, also versuchte sie, an etwas anderes zu denken. Aber wie immer war das erste Thema, das ihr nun in den Sinn kam, Nate, Nate und nochmals Nate. Und die Gedanken an ihn taten ihr unendlich weh.
Josey stand nackt vorm Spiegel und musterte sich kritisch. Nein, man konnte noch nichts erkennen, von vorne nicht und auch nicht im Profil. Sie fuhr sich mit der Hand über den Bauch. Es konnte einfach nicht wahr sein. Offenbar war es das aber trotzdem. Gestern hatte ihr Frauenarzt es bestätigt. Außerdem hatte sie sich schon mehrmals übergeben.
Nate wäre entsetzt, wenn er davon wüsste. Er wollte sie nicht, und er wollte erst recht kein Kind.
Beschützend legte Josey sich eine Hand auf den Unterleib. Keine Gebärde, die ihr vertraut war, trotzdem fühlte es sich für sie ganz natürlich an. Nun hob Josey den Blick von ihrem Bauch, um der Frau im Spiegel in die Augen zu sehen. Ich kann es nicht vor ihm verschweigen, dachte sie.
Ganz gleich, wie es jetzt um ihre Beziehung stand – Nate würde immer der beste Freund sein, den sie jemals gehabt hatte und jemals haben würde. Vor ihm geheim zu halten, dass es bald einen Menschen geben würde, der zur Hälfte von ihm abstammte, wäre einfach unverantwortlich. Ja, Josey würde ihm von dem Baby erzählen, ob es ihm gefiel oder nicht. Sie hatte keine Angst vor ihm, aber sie hatte sehr wohl Angst davor, ihn zu verletzen. Und was hier passiert war, würde ihn mehr verletzen als alles andere, das war ihr bewusst.
Draußen war es immer noch so warm, dass Josey den ganzen Tag die Fenster geöffnet ließ, trotzdem hatte sie seit Wochen weder seinen Fernseher gehört noch das Wasser im Bad. Nichts.
Wo steckte Nate bloß? Josey machte sich Sorgen, andererseits wusste sie, dass er ja noch Derek hatte, der sich ganz sicher um ihn kümmern würde, wenn etwas Schlimmes passierte. Und sie hoffte, dass Derek in diesem Fall auch ihr Bescheid gegeben hätte.
Sie streifte sich ein grünes Kleid mit Blumendruck über und zog das Band an der Taille fest zu. Dann überlegte Josey es sich jedoch anders und lockerte das Band wieder ein wenig. Erneut legte sie sich eine Hand auf den Bauch, seufzte und suchte ihre Schulsachen zusammen. Seltsam, dachte sie. Jetzt gibt es ein Kind mehr in meiner Klasse. Und niemand außer mir weiß davon.
Bald stellte sich heraus, dass heute sogar noch ein weiteres Kind im Klassenzimmer war: Nachdem Mike Crowley drei Tage gefehlt hatte, war er
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