Diesen Sommer bin ich dein
vollkommenes linksseitiges Profil. »Warum weigert Ihr Euch
dann, ihm zu verzeihen? Es gibt nicht einmal etwas zu verzeihen, nicht wahr? Er
hat die richtige Entscheidung getroffen.«
Er wirkte erneut
zornig. Sie gingen weiter, während Lauren dem Bach lauschte und darüber hinweg
zu dem verwilderten Pfad blickte, der unter den gegenüberliegenden Bäumen
gerade eben sichtbar war.
»Ich schuldete
meinen vorgesetzten Offizieren Gehorsam«, sagte er schließlich. »Zu der Zeit
war ich Lieutenant, während Kit Major war und somit zwei Ränge über mir stand.
Er war mein Vorgesetzter. Mehr als das - bei diesem speziellen Einsatz
war er mein befehlshabender Offizier. Hätte er mir befohlen, zu bleiben und
mich gefangen nehmen zu lassen, hätte ich ihm fraglos gehorcht. Er hat es nicht
befohlen. Ich habe es freiwillig getan. Hat er Euch das erzählt?«
»Nein«, antwortete
sie nach einem kurzen Moment des Schweigens. »Er erzählte mir, dass Ihr
derjenige wart, der die Möglichkeit zur Flucht für einen von Euch erkannte.«
»Er hat mir niemals
befohlen, es zu tun«, sagte Sydnam. »Ich meldete mich freiwillig. Er war
entsetzlich still, verschwendete wertvolle Augenblicke, nachdem ich es
vorgeschlagen hatte, obwohl er als loyaler Offizier wohl wusste, dass es keine
Alternative gab. Aber er konnte sich nicht dazu überwinden, den Befehl zu geben.
Ich meldete mich erneut freiwillig. ich beharrte darauf. Und dann umarmte ich
ihn, und ich befahl ihm - einem vorgesetzten Offizier - zu
entfliehen. Ich entschied mich selbst zu bleiben. Selbst wenn er mir
schließlich befohlen hätte, es zu tun - weil die Pflicht wichtiger sein
muss als der Bruder, wie Ihr gewiss versteht -, wollte ich ihn nicht
damit belasten, es tun zu müssen. Ich meldete mich freiwillig.«
»Warum dann ...«
Lauren runzelte die Stirn. »Warum?«
»Kit wird Euch
erzählt haben, dass ich gefoltert wurde«, sagte er. »Ich will Euch nicht mit
Einzelheiten erschrecken, Miss Edgeworth. Ich hoffe, er hat es auch nicht
getan. ich sage nur Folgendes: Endlose Tage lang schien mir der Tod das
verführerischste, begehrenswerteste Geschenk, das mich jemals gelockt hatte.
Ich hätte dieses Geschenk um den Preis einiger Informationen jeden Moment
ergreifen können. Ich tat es nicht, weil ich ein Offizier war, weil es meine
Pflicht war zu schweigen. Ich zerbrach nicht, weil ich in der Lage war, nicht
zu zerbrechen. Ich überraschte mich sogar selbst, weil die Hölle wahrscheinlich
nicht schlimmer sein konnte als das - verzeiht. Schließlich erkannte ich
es: Ab einem gewissen Punkt wusste ich, dass ich die Willenskraft besäße, auf
die harte Art zu sterben. ich wusste es, und ein Teil von mir triumphierte bei
diesem Wissen. Ich war so stolz auf mich.« Er lachte leise. »Und dann retteten
mich Kit und eine Horde Partisanen.«
Plötzlich verstand
Lauren. Er musste seine Geschichte nicht zu Ende erzählen. Sie verstand. Aber
da er sie begonnen hatte, musste er sie doch beenden. Sie waren zu der Stelle
gelangt, wo der Wasserlauf in den Fluss mündete, und waren stehen geblieben.
Lauren ließ den Blick zum jenseitigen Wildgehege schweifen und wartete.
»Wieder war ich der
arme Syd«, sagte er. »Ich unterzog mich der Amputation und weiteren
schmerzhaften Prozeduren. Ich durchlitt das Fieberdelirium und die Tortur der
Heimreise. Und die ganze Zeit über war ich der arme Syd. Ich kam zu Hause an,
und Kit nahm alle Schuld auf sich. Ich war nur der arme Syd, den man
ursprünglich nicht hätte gehen lassen dürfen. Ich war der arme Syd, den mein
Bruder nicht hatte beschützen können. Kit kam dem Wahnsinn in jenem Sommer sehr
nahe - weil er seinen kleinen Bruder geopfert hatte, weil er die Wunden
und das Leid des armen Syd nicht auf sich nehmen konnte. Verzeiht meine
Verbitterung. Ich konnte es niemandem von ihnen begreiflich machen. Ich habe
den Versuch aufgegeben.«
»Sie konnten sich
nicht einfach mit Euch freuen?«, fragte sie.
Er sah sie scharf
an. »Ihr versteht mich tatsächlich?«
Sie nickte und ihre
Augen füllten sich mit Tränen, etwas, das ihr dieser Tage ziemlich häufig zu
widerfahren schien.
»Ja, ich verstehe.«
Sie legte eine Hand vorsichtig auf seinen Arm und streckte sich dann, um ihm
einen sanften Kuss auf seine heile Wange zu geben. Sie zögerte nur einen
Moment, bevor sie auch seine welke, purpurfarbene rechte Wange küsste. »Ihr
hattet ganz genauso großen Anteil am Gelingen jenes Einsatzes wie Kit. Nein,
Ihr hattet größeren Anteil, weil Eure
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