Diesen Sommer bin ich dein
und einsame Seele gehört, zu tief in sich selbst zurückgezogen, um
glücklich zu sein. Kit hatte in all seinem trübsinnigen Elend vor zwei Abenden
eine Zuhörerin in ihr gefunden und ein wenig Trost. Wem vertraute Sydnam Butler
seinen größten Kummer an? Gab es jemanden? Er schien ein so einsamer Mensch.
»In einem bin ich
gut«, erklärte sie und übersah, dass er mit der Hand zum Haus deutete. »Ich
kann gut zuhören. Wirklich zuhören, anstatt nur das zu hören, was ich hören will
oder zu hören erwarte. Erzählt mir, was geschehen ist. Erzählt mir Eure Version
der Geschehnisse.«
Kit hatte ihr die
Fakten dargelegt. Sie glaubte nicht, dass er gelogen oder auf irgendeine Weise
versucht hatte, sie irrezuführen. Aber manchmal erzählten selbst Fakten nicht
die ganze Geschichte. Manchmal wurde unbewusst etwas ausgelassen oder so
verschleiert, dass die gesamte Perspektive verändert wurde. Wenn drei Menschen
erzählen sollten, was sich bei einer aufregenden Gelegenheit zugetragen hatte -
zum Beispiel bei ihrer Hochzeit auf Newbury -, dann bestand eine gute
Chance, dass drei zwar ähnliche, aber im Wesentlichen doch ganz
unterschiedliche Geschichten entstanden.
Er sah ihr einige
Augenblicke fest in die Augen, bevor er sich umwandte, um ihren Spaziergang vom
Haus fort wieder aufzunehmen.
»Ja, ich war der
Künstler«, sagte er, »der Träumer, der kleine Bruder, der zu klein für sein
Alter war, bis er mit fünfzehn Jahren schlagartig groß und schlaksig wurde. Ich
frage mich, ob Kit jemals bemerkt hat, dass ich größer wurde als er. Jerome war
der Bodenständige, der Verantwortungsbewusste, derjenige, der eines Tages erben
und der Earl sein würde. Er war zuverlässig, tatkräftig, stark. Kit war der
Unruhestifter, der Draufgänger, der inmitten jedes Ärgers stand, der am
häufigsten in die Bibliothek unseres Vaters gerufen wurde. Er war der
Charismatische, der Strahlende, der Lachende. Der Held meiner Kindertage. Ich
verehrte ihn.«
Lauren schwieg.
Eine ziemlich große Wolke war gerade an der Sonne vorbeigezogen, und nun drang
ein Strom willkommener Helligkeit und Wärme herab.
»Ich war der
Liebling aller«, fuhr er fort. »Der süße kleine Syd, der sanfte Träumer. Derjenige,
der vor allen Gefahren, vor allen potentiellen Feinden, vor allen Bestrafungen
geschützt werden musste.« Er lachte jäh auf, und Lauren erkannte, dass er ihre
Anwesenheit fast vergessen hatte. »Einmal, als ich mit dem Boot hinausruderte
und es bei meiner Rückkehr nicht richtig sicherte, so dass es in die Mitte des
Sees abtrieb - es war strikt verboten, ohne Aufsicht hinauszurudern,
müsst Ihr wissen -, bekannte sich Kit des Fehlverhaltens und wurde mit
dem Stock gezüchtigt. Als ich dann, nachdem ich davon gehört hatte, darauf
bestand, die Wahrheit zu sagen, und eher stolz auf meine brennende Kehrseite
war, wurde Kit fürs Lügen erneut gezüchtigt. Sie haben es beide getan - Jerome
und Kit. Sie haben mich immer geschützt. Aber ich war nur ein Träumer, versteht
Ihr, kein Schwächling~.«
»Sie haben Euch
überbehütet?«, fragte Lauren.
»Ja.« Sie hatten
den kleinen Wasserlauf erreicht, der auf dem Weg zum Fluss durch sein unebenes
Felsbett sprudelte. Sie wandten sich dem Uferweg zu. »Natürlich weil sie mich
liebten. Liebe kann eine höllische Plage sein, Miss Edgeworth. Wusstet Ihr das?«
Es war eine
rhetorische Frage. Sie versuchte nicht, sie zu beantworten.
»Ich wollte so
verwegen wie Kit sein«, fuhr er fort. »Selbsterkenntnis zu erlernen braucht
weitaus länger als jede andere Lektion. Tatsächlich kommen einige Menschen dem
niemals auch nur annähernd nahe, und vielleicht gelingt es niemandem von uns
vollständig. Die Episode mit dem Boot war vermutlich mein Versuch, ebenso kühn
zu sein wie er. Mein Beharren darauf, Offizier beim Heer zu werden, war ein
weiterer. Es war äußerst töricht. Ich war natürlich nicht für ein solches Leben
gemacht. Aber ich musste etwas beweisen. Kit und meiner Familie. Und vor allem
mir selbst.«
»Und es endete schlecht«,
sagte Lauren. »Das tut mir unendlich leid. Aber es war nicht wirklich Kits
Fehler, oder? Er hat nicht darauf bestanden, dass Ihr ein Offizierspatent
erwerben solltet. Er hat Euch tatkräftig davon abzuhalten versucht, sich ihm
bei diesem verhängnisvollen Erkundungseinsatz anzuschließen. Und sein
Versprechen, Euch zu beschützen, war unrealistisch.«
»Natürlich war es
nicht sein Fehler«, sagte er nachdrücklich.
Lauren betrachtete
verwundert sein
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