Dieser eine Moment (German Edition)
...
Die Dosis wird in jedem Fall reichen. Das einzige Problem ist ihr Magen. Wenn er rebelliert, bevor die Wirkung einsetzt, wird sie alles wieder von sich geben. Sie wird zu schwach sein, die Spuren ihrer Tat zu beseitigen, ihre Mutter wird sie vorfinden in ihrem Erbrochenen, die ausgedrückten Blister und die leere Schachtel auf dem Nachttisch. Sie wird es nicht verstehen. Und selbst wenn sie es versteht, wird sie alles tun, um sie zurück nach Hause zu holen. Sie wird sie noch mehr überwachen als bisher. Sie wird ihr einen goldenen Käfig bauen und den Schlüssel dazu um den Hals tragen, Tag und Nacht. Und auf eine verdrehte Art und Weise wird sie froh sein, dass alles so gekommen ist.
Zweiunddreißig Tabletten, eine davon in ihrer Hand. Zwischen Daumen und Zeigefinger, nur ein paar Zentimeter von ihrem Mund entfernt. Ein paar Zentimeter, die plötzlich zu einer unüberwindlichen Entfernung werden, weil sie die Stimme eines Jungen hört, der ihr die Ziffern einer Handynummer nennt: Null, eins, sieben, zwei ...
16
Sie warten Gasthermen. Den ganzen Vormittag. Die Siedlung gehört einer Wohnungsgenossenschaft. Dreigeschossiger roter Klinker, weiße Fenster. Die Wohnungen sind so gleich wie ihre Mieter. Zwei oder drei Zimmer, Arbeiter oder Angestellte, selbst die Möbel ähneln einander. Ein einförmiges, genormtes Leben. Auf einem Grundriss, den andere sich für sie ausgedacht haben.
Unter den kritischen Augen seines Meisters überprüft Jan Dichtungen, misst Emissionswerte, wechselt schadhafte Brenner. Eine eintönige, langweilige Arbeit, an deren Ende jedes Mal eine Prüfplakette steht, aufgeklebt an der Innenseite der Thermenabdeckung, versehen mit Prüfdatum, Firmenstempel und Unterschrift. Es ist die Arbeit, die vor ihm liegt für den Rest seines Lebens, seine Zukunft.
»Zehner«, sagt der Meister, der eigentlich Kolowski heißt, aber von niemandem in der Firma bei seinem Namen genannt wird. Er streckt seine Hand aus, die Augen auf die Gaszuleitung gerichtet.
Jan greift in die abgewetzte Werkzeugtasche, fischt einen Schlüssel heraus. Er hat kaum geschlafen. Seine Muskeln schmerzen, er fühlt sich zerschlagen.
Er sieht Laura vor sich, zusammengekauert vor der Natursteinwand mit dem Kamin in dem riesigen Wohnzimmer, in Tränen aufgelöst, von ihrer Freundin gestreichelt. Das Laken, das Inkie um ihren fülligen Körper geschlungen hat, ist verrutscht, er kann den Ansatz ihrer Aureolen erkennen, groß und rund. Er redet auf Laura ein, sie reagiert nicht, es ist aussichtslos. Ihr Weinen ist wie eine Wand, gegen die er vergeblich anrennt, ihre Tränen überfluten seinen Kopf. Dann tritt Lars von der Tür her auf ihn zu, erst jetzt fällt ihm auf, dass nicht nur sein Oberkörper nackt ist, er spielt sich auf wie ein Türsteher, an ihm klebt der Geruch nach Schweiß und Lust. Er fordert ihn auf, das Haus zu verlassen, sofort. Jan weigert sich, er wird erst gehen, wenn er mit Laura geredet hat. Lars packt ihn und zieht ihn mit sich, seine Finger graben sich wie Klauen in seine Oberarme. Das Letzte, was er sieht, ehe dieser Berg aus Muskeln die Tür hinter ihm zuschlägt, ist sein Glied, das verloren zwischen seinen Beinen hin und her baumelt, zusammengeschrumpft in der Kälte der Nacht.
»Seit wann ist ein Zwölfer ein Zehner?«, fragt der Meister und schleudert den Schlüssel zurück in die Werkzeugtasche. Die geschwollenen Adern an seinem Hals treten bläulich hervor, die Haare auf seinen Unterarmen sind grau.
»Entschuldigung«, sagt Jan und reicht ihm den richtigen Schlüssel.
Er hat den ganzen Weg nach Hause zu Fuß zurückgelegt, in seiner Brust ein Chaos aus widerstreitenden Gefühlen. Wut, Beschämung, Verzweiflung. Aber nicht eine Sekunde die Angst, Laura zu verlieren. Sein Erschrecken darüber und die quälende Frage, ob er sie überhaupt liebt.
»Was ist los mit dir, Junge?«, fragt der Meister.
»Nichts. Was soll denn los sein?«
»Du bist nicht bei der Sache, seit Wochen schon. Ich muss mich auf meine Jungs verlassen können.«
»Sicher«, sagt Jan, »natürlich.«
»Plakette«, sagt der Meister.
Jan reicht ihm den Prüfaufkleber, der Meister füllt ihn aus, unterschreibt ihn, setzt den Firmenstempel darunter, bläst die Drucktinte trocken.
»Wie viele Wohnungen haben wir noch für heute?«
Jan schaut auf das Klemmbrett neben der Werkzeugtasche. »Das hier ist die letzte«, sagt er.
»Hunger?«
»Geht so.«
»Ich kenne da einen erstklassigen Imbiss. Ganz hier in der Nähe.«
»Von
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