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Dieser Mann ist leider tot

Dieser Mann ist leider tot

Titel: Dieser Mann ist leider tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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sich Mühe, sich ihren Verdruß nicht anmerken zu lassen. Sie wußte, daß sie ihre Sekretärin mit ›Miss Bledsoe‹ anreden sollte, nicht mit ›Shawanda‹, aber die junge Frau – eine Halbwüchsige von achtzehn oder neunzehn Jahren eigentlich – hatte ein so füllenhaftes Aussehen und so unreife Gestik und Arbeitsgewohnheiten, daß Lia die Maskerade der Förmlichkeiten nicht aufrechterhalten konnte.
    Außerdem vertraute Shawanda sich ihr manchmal spontan an; Lia hatte sie nicht nur deshalb eingestellt, weil sie ihr nur ein minimales Gehalt zahlen konnte – im Augenblick eine unerläßliche Vorbedingung –, sondern auch, weil Shawanda die Enkelin der Frau war, die vom Ende der vierziger bis Mitte der sechziger Jahre als Köchin bei Lias Eltern gewesen war. Shawanda hatte im vergangenen Juni ihr Examen an der Harris County High School gemacht und war gut bewandert in Sozialkunde, Mathematik und Klarinettenspiel. Ihre Orthographie war verbesserungsbedürftig, und ihre Beherrschung des Englischen stand in direktem Zusammenhang mit ihrer Stimmung und ihrem Publikum. Weil die Universität Georgia Schwarze derzeit nach einem Quotensystem aufnahm, dem der prozentuale Anteil der Schwarzen an der amerikanischen Gesamtbevölkerung zugrundelag, konnte das Mädchen nicht aufs College gehen. Wenn Lia ihr nicht die Stelle als Sekretärin angeboten hätte, wäre es ihr nie gelungen, außerhalb des hauswirtschaftlichen Bereichs eine Arbeit zu finden.
    »Ma’am?«
    »Ich habe gefragt, weshalb hat der Mann unsere Formulare nicht ausgefüllt?«
    »Dr. Bonner, ich glaube nicht, daß er schreiben kann.«
    Lia stand auf. »Ist das ein Erwachsener, Shawanda?« Sie befürchtete, ihr potentieller Klient sei nun entweder ein Kind oder ein armer Schwarzer. Hoffentlich nicht, dachte Lia – nicht weil sie es verschmäht hätte, Kinder oder Schwarze zu behandeln, aber weil der Besucher dann nur über begrenzte Mittel verfügen würde und weil sie nicht in alle Ewigkeit wohltätig sein konnte.
    »Es ist auf alle Fälle ein Erwachsener, Dr. Bonner. Es ist ein erwachsener Mann. Ein erwachsener Weißer. Mit Bart.«
    »Sieht er aus wie ein Penner?«
    »Sein Sonntagszeug hat er nicht gerade an, aber ich weiß nicht, ob er deshalb ’n Penner ist.«
    »Und er kann nicht schreiben?«
    »Das weiß ich nicht. Jedenfalls will er nicht schreiben; das steht fest. Er hat die Papiere weggeschoben und gesagt: ›Ich will den Doktor sprechen.‹«
    Himmel, dachte Lia. Ich sollte jetzt zur Tür gehen und durch den Spalt hinausgucken, aber selbst wenn er aussieht wie der König der Penner und nach Gehweg und ungewaschenen Winterklamotten stinkt, könnte er immer noch so reich wie dieser verrückte Howard Hughes sein. Wage ich es aber, Howard Hughes wegzuschicken? Oder, wenn wir schon dabei sind, wage ich es, einen Kerl mit durchgelaufenen Sohlen wegzuschicken? Nein. Nicht, wenn ich etwas zu essen haben will.
    »Schicken Sie ihn herein, Shawanda.«
    Shawanda ging – attraktiv langbeinig – hinaus und teilte dem zweiten Klienten des Tages mit, jawohl, die Frau Doktor werde ihn jetzt empfangen.
    Der Mann spähte scherzhaft um die Ecke, als wünschte er sich ebensowenig, in Lias Praxis zu bleiben, wie sie Verlangen danach hatte, sich mit einem Landstreicher zu befassen, der nichts bezahlen konnte. Das war beruhigend. Wenn er seine Zweifel an ihr hatte, dann war er jedenfalls nicht darauf aus, eine Therapie abzustauben, nur um eine Therapie abzustauben. Er hatte Maßstäbe. Lia sah einen Hoffnungsschimmer.
    »Guten Tag«, sagte sie; sie hatte sich wieder an ihren Schreibtisch gesetzt. »Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich möchte wissen, ob Sie eine Kaffeemaschine haben.«
    »Eine Kaffeemaschine?«
    Der Besucher gluckste. »Ja. Eins von den Dingerchen, für die man Filterpapier braucht. Oder von mir aus auch einen von diesen altmodischen Brühautomaten. Aber ich sehe schon, Sie haben eine Papiermaschine von der neumodischen Sorte.«
    O je. Vielleicht schnorrte er Gratistherapien nur von Psychotherapeuten mit akzeptablen Kaffeemaschinen. Ob ihre die Prüfung bestehen würde?
    Lia deutete auf den Sessel vor ihrem Schreibtisch, ein gutgepolstertes Kunstobjekt, das sie auf Raten gekauft hatte. Der Mann war lässig, aber nicht schlampig gekleidet. Er sah aus, als sei er ein paar Jahre über die Lebensmitte hinaus. Er hatte eine hohe Stirn und einen recht ordentlichen, graumelierten Bart, und seine Augen waren halb geschlossen – auf melancholische oder

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