Dieser Mann ist leider tot
sagte er. »Und denken Sie dran: Cal liebt Sie, Mädchen, und irgendwo, irgendwie, werden Sie sich alle wiedersehen, und zwar auf die allerglücklichste Art und Weise. Ich muß los.«
Jeff kam zu Fuß heran. Sein Schatten fiel über Lia und den gestürzten Zwerg. Im selben Augenblick begann die Luft um Horsy zu kribbeln, ein Empfinden, das visuell und taktil zugleich war. Ein zweites Gesicht schwebte über dem des Schwarzen: Eine klare Kaukasiermaske über dem negroiden Antlitz des Zwerges. Und die Luft selbst hatte sich verändert und dem Maihimmel die zerbrechliche Märchenfarbe von Muskatwein gegeben.
»Heilige Scheiße«, sagte Jeff in ehrfürchtigem Staunen.
Lia schaut sich nach Suzi und den Kindern um und sah, daß ihre Pferde mitten im Galopp erstarrt waren; eine Krähe, die hinter ihnen über dem Wald flatterte, schwebte regungslos da wie eine bizarre taxidermische Illusion.
»Horsy ist okay«, sagte der Mann auf dem Boden. »Er macht bloß ’ne kleine Spritztour, weiter nichts.«
»Kai!«
»Hey, ich habe nicht viel Zeit. Ich muß ihm nach, ehe sein verklärter Leib unbewohnt dort ankommt.«
»In Censorinus?«
Die laminierten Züge, die wie eine Maske auf Horsys Gesicht lagen, nickten. »Ich möchte, daß Sie was für mich tun. Horsy ist einverstanden. Er betrachtet uns beide mittlerweile als Symbionten, glaube ich.«
Jeff kniete neben Lia nieder. Mit zusammengebissenen Zähnen zischte er: »Würdest du mir bitte sagen, was, zum Teufel, hier vorgeht, Schwesterchen?«
Kai ignorierte die Störung. »Auf dem Nachttisch in Horsys Dachkammer liegt ein Umschlag mit mehreren Zwanzig-Dollar-Noten. Er ist schon adressiert. Ich möchte, daß Sie ihn zukleben, eine Briefmarke draufpappen und ihn einwerfen. Okay?«
»Natürlich, Kai. Selbstverständlich.«
»Prima. Das wär’s dann. Ich muß auch los.«
»Lia!« drängte Jeff hartnäckig.
Lia schüttelte die Hand ihres Bruders ab und stand auf. Kai war Horsy gefolgt; die verlassene Hülse des Zwergenleibes lag jetzt im Gras und atmete per Autopilot, blieb aus bloßer Gewohnheit in Gang, bis ihr belebender Geist zurückkehren und sie wieder für sich beanspruchen würde.
Unterdessen zerfiel die muskatellerfarbene Stasis rings um die von Kai erfüllte Blase von außerzeitlicher Beweglichkeit, und das ewige Blau des Himmels flutete wieder herein. Die Pferde der drei anderen Bonners tauten auf, ebenso die Krähe, die für einen Moment am Muskateller-Himmel über dem Wald gehangen hatte.
»Ist er tot?« rief Suzi und kam herangeritten. »Hat er sich irgendwas gebrochen?«
»Sprich du mit ihr«, sagte Lia zu ihrem Bruder. »Ich habe etwas zu erledigen.« Sie gab ihrer abgestiegenen Schwägerin einen Kuß, sagte den beiden aufgeregten Kindern, daß Horsy wieder auf die Beine kommen werde, und ging am Koppelzaun entlang zum Pferdestall.
Wenig später, in Horsys Dachbodenkammer, sah Lia, daß Kai den Umschlag mit Bargeld an den Taxifahrer adressiert hatte, der ihn vom Flughafen Atlanta nach Warm Springs gefahren hatte. Das ist gut, dachte sie. Vielleicht wird es ja schon besser. Gleichzeitig aber machte sich ihre angeborene praktische Vernunft wieder bemerkbar, und sie begriff, daß sie auf dem Postamt eine Überweisung würde ausfüllen müssen. Nur ein Idiot würde soviel Bargeld in einem einfachen Briefumschlag verschicken, und sowohl Kai als auch Horsy würden wollen, daß sie alles in ihren Kräften Stehende unternähme, um sicherzustellen, daß der betrogene Taxifahrer endlich sein Geld bekam.
Und noch etwas munterte sie ungeheuer auf: Horsy hatte versprochen, daß sie und Cal irgendwo, irgendwie wieder vereint werden würden. Natürlich, dachte Lia. Natürlich. Wie sollte unsere Geschichte denn sonst auch enden …?
24 Während des Abendessens mit Major Vear und dem Computer-Troubleshooter Peter Dahlquist kamen Cal zwei bestürzende Erkenntnisse.
»Bischof Marlin ißt nicht«, verkündete er. »Er hat nicht gegessen, seit wir hier sind. Seit drei vollen Tagen.«
»Das Schwarze Fasten«, sagte Vear. »Er macht sich bereit.«
Ja, dachte Cal. Für den Exorzismus. Aber seine zweite Erkenntnis war noch beunruhigender als die Länge der bischöflichen Fastenzeit. »Wo ist eigentlich Ostern geblieben?«
Vear und Dolly sahen einander an.
»Ostern«, wiederholte Cal verärgert. »Hören Sie, ich bin kein Kirchgänger, aber laut Kalender haben wir Mai, und Ostern ist noch nicht gewesen.«
Endlich zeigte sich Verwirrung in Vears Gesicht, und auch eine
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