Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)

Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)

Titel: Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane zu Salm
Vom Netzwerk:
Liebe hüten wollte, aber es wurde ja nie über irgendwas gesprochen. Wenn, dann nur im Bösen. Ich stand immer zwischen meinen Eltern, zwischen Baum und Borke. Mein Vater konnte sich auch an meiner Mutter vergreifen, und dann habe ich mich als Schutzblock vor sie gestellt. Es war ein Kampf und ein Krampf. Ich habe bis zuletzt zu Hause bei meinen Eltern gewohnt, bis beide gestorben sind. Da war ich sechsundsiebzig Jahre alt.
    Ich wäre gerne verheiratet gewesen und hätte gerne Kinder gehabt. Dass es nicht so war, darunter habe ich manchmal schon gelitten. Ich bin öfter mal verliebt gewesen, aber es hat nie gereicht, um nachher zu heiraten. Wie das so vorkommt, waren das meist Gebundene, und da bin ich nicht zwischengegangen. Aber ich hatte den Sport, der zu meinem Beruf wurde. Ich ging zur Sportlehrerausbildung nach Marburg und war dann als Dozentin und Lehrerin am Berufsschulinstitut tätig. Der Sport hat mich nicht nur kräftig und widerstandsfähig gegen Krankheiten gemacht, sondern gab mir eine sinnvolle Aufgabe. Jugendliche zu trainieren, sie von der Straße runterzubringen und sie zu motivieren, es zu etwas bringen zu wollen– im Beruf bin ich aufgegangen. Die Arbeit ist mir auch leichtgefallen, ich konnte immer gut auf andere Leute zugehen.
    Es wäre schade gewesen, wenn ich bei meinen zwei Selbstmordversuchen ums Leben gekommen wäre, denn bei mir hat sich das Leben ja erst spät gestaltet. Nach dem letzten Selbstmordversuch habe ich gedacht: Mensch, wie kannst du so einen Irrsinn machen, du lebst ja noch, und du musst dir eben dein Leben selbst organisieren, wenn du nirgends Hilfe hast. Geholfen hat mir mein starker Wille, mein Wille war der Beruf. Damit kann man vieles ausgleichen.
    Verziehen habe ich meinem Vater nie, zuletzt haben wir kein Wort miteinander gesprochen. Aber ich habe keine Wut, ich bin stumpf. Die Wut hatte ich unterdrückt, denn hätte ich sie geäußert, wäre meinem Vater die Hand ausgerutscht und er hätte sich wieder noch in anderen Dingen an mir versündigt. Manchmal taucht die Wut in meinen Träumen auf.
    Nach dem Tod meiner Mutter habe ich tief durchgeatmet, habe alles abgestreift und bin mit meiner Freundin überallhin gereist. Zwei bis drei Auslandsreisen pro Jahr haben wir gemacht, Tunesien, Kanarische Inseln, Norwegen. Jetzt mache ich jeden Tag einen Atemzug und denke, ich möchte einschlafen. Aus dem einfachen Grund: Ich habe Darmkrebs, und ich weiß nicht, wie lange das noch gehen wird. Angst vor dem Tod habe ich nicht. Ich hatte ein gelebtes Leben, es war das, was ich daraus machen konnte.
    Martha Schneider, 96 Jahre, Darmkrebs

Und jetzt fühlt sich mein Leben auch so an, a ls sei es mit mir über Rot gefahren
    Bei den einschneidenden Ereignissen, die im Leben so passieren, weiß man angeblich im Nachhinein, wofür es gut war. Dass alles, ganz gleich was, sich irgendwann für irgendetwas als gut erweist– das sagen sie doch immer alle. Ich habe mich aber oft gefragt, ob das nicht einfach nur ein hilfloser Trostversuch ist.
    Was an meinem Schicksal gut gewesen sein soll, das weiß ich jedenfalls bis heute nicht. Verschiedene Psychotherapeuten haben versucht, mir die verschiedensten Erklärungen zu geben für das, was passiert ist. Und sie haben versucht, mir das Positive daran aufzuzeigen– aber im Grunde ist das doch alles ein großer Schwindel.
    Meine Frau hat nie Verständnis dafür aufbringen können, dass ich nach meinem Schlaganfall zur Flasche gegriffen habe. Sie hat immer nur den Kopf geschüttelt über so viel Unvernunft. Stimmt ja auch, zu trinken ist unvernünftig. Darüber brauchen wir uns nicht zu streiten. Aber was weiß sie denn schon, wie unerträglich es sonst gewesen wäre, das Leben, in diesem einseitig gelähmten Körper. Ich musste mit meiner Arbeit als Rettungsfahrer aufhören, ich konnte nicht mehr raus, ich habe viele Freunde verloren, ich bin frühverrentet, ich wurde mitten im Leben zum Pflegefall. Es ist fast ironisch, dass ich als Rettungsfahrer hier in Stuttgart viele Leute davor bewahrt habe, zu einem Pflegefall zu werden. Weil ich sie rechtzeitig in die Notaufnahme gebracht habe. Manchmal über dreißig Kilometer über die Autobahn gebrettert, über Rot gefahren, full speed.
    Und jetzt fühlt sich mein Leben auch so an, als sei es mit mir über Rot gefahren. Wir haben zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Birgit behauptet bis heute, ich hätte mich nicht nur betrunken, sondern auch unsere Tochter geschlagen. Mit einem Küchenbrett auf

Weitere Kostenlose Bücher