Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
Er hat immerhin in jungen Jahren Verantwortung übernommen, sich festgelegt auf mich und unseren Sohn. Er hätte ja auch abhauen können. Ich habe nie verstanden, warum du ihm das nicht angerechnet hast. War dir sein Beruf nicht gut genug? Nur, weil er nicht studiert hat? Oder warst du eifersüchtig, weil er dir deine Tochter weggeheiratet hat? Wir konnten ja nie darüber reden, ohne dass du gleich aufgebraust bist. Irgendwie hast du mir damit das Leben schon schwer gemacht, ich habe mir in unzähligen schlaflosen Nächten den Kopf darüber zerbrochen, und das wird bald ni cht mehr sein. Dieses Gefühl erleichtert mich.
Jetzt bete ich dafür, dass ich ohne Schmerzen gehen kann. Das war schon ein Schock, die Diagnose einer unheilbaren, tödlichen Krankheit. Ich bete, dass meine Familie nicht allzu sehr leidet, wenn ich nicht mehr da bin. Dass alles gut wird. Obwohl, in den letzten Jahren habe ich angefangen, mit Gott zu hadern. Ich weiß nicht warum. Über so viele Jahre hat mir die Kirche geholfen, ich habe in der Gemeinde gearbeitet, das war mein Beruf, aber jetzt fühlt es sich irgendwie so an, als könne mir keiner mehr helfen. Nur mein Mann und mein Sohn, die mich pflegen und tragen, bis zum letzten Tag. Wir hatten alles in allem eine gute Zeit. Wir haben zusammengehalten, wenn es drauf ankam. Zum Beispiel, wenn mein Vater wieder an Rudi rumgemäkelt hat. Nur weil er nicht richtig grillen kann.
Wenn du sonst keine Probleme hast, Papa, dann ist ja gut.
Diana Wessling, 64 Jahre, Leukämie
verstorben im Januar 201*
Behalte deine Neugier, da nn erweiterst du deine n Horizont
Der Sinn des Lebens ist doch eigentlich, dass man aus dem, was man hat, seinen geistigen Fähigkeiten und Begabungen, etwas Sinnvolles macht. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Familie, das nahe Umfeld und, das klingt jetzt ein bisschen agitatorisch, eigentlich für alle Menschen. Dass man dazu beiträgt, die Welt sicherer und besser zu machen. Aber das ist wahrscheinlich ein hoffnungsloses Unternehmen. Wenn man die Gegenwart anguckt, gab es ja kein Jahr ohne Krieg.
Jedenfalls war ich mein Leben lang bestrebt, mein Wissen zu vermehren. Als ich als Junge einmal nach Hause kam, reichte mir meine Mutter einen Zettel und sagte, guck mal, den habe ich in der Standuhr gefunden. Es war ein Zettel von meinem Vater, der zu dem Zeitpunkt schon vierzehn Jahre verstorben war. Auf dem Zettel stand sinngemäß: Lieber Dietrich, du würdest mir eine große Freude bereiten, wenn du dich entschließen könntest, Lehrer zu werden und der Jugend zu zeigen, wo der Weg eigentlich hingeht. Mein Vater hatte mich sozusagen in die Pflicht genommen. Sein Vermächtnis, Lehrer zu werden, habe ich erfüllt, bis an mein Lebensende, bloß dass der Kreis immer ein anderer wurde.
Zuerst war ich Grundschullehrer und erzählte den Schülern etwas über den Sinn und Unsinn des Krieges. Dass sie sich den Krieg nicht als Abenteuerleben vorstellen sollten, wir hätten geschrien vor Angst, als die Stukas über uns flogen. Ich sagte ihnen, lasst euch nicht verführen von Leuten, die behaupten, die Weisheit mit Löffeln gegessen zu haben, und das Recht alleine vertreten. Dann habe ich sechs Jahre ein Fernstudium in Leitungswissenschaft gemacht, auch wieder Wissensvermehrung. Später leitete ich einen Schuhbetrieb und bildete Fachleute an der Betriebsfachschule weiter. 1987 wurde ich in Ehren entlassen und habe mich seither um das Wohlergehen älterer Menschen gekümmert.
Also, ich kann mich eigentlich freuen über das, was ich erreicht habe. Ich habe mein Wissen weitergegeben, habe zumindest wissentlich keinem Menschen Schaden zugefügt, und im Krieg habe ich keinen getötet.
Meine Lebensmaxime war: Junge, lies, behalte deine Neugier, dann erweiterst du deinen Horizont. Das Neugierigsein habe ich von Einstein gelernt. Er hat gesagt: Ich war kein Genie, aber ich war abstrus, also übermäßig neugierig.
Neugierig bin ich darauf, wie sich das mit unserer Welt weiterentwickelt. Was in Europa ja anscheinend gelungen ist, in Europa selbst keine Kriege mehr zu führen, ist eine tolle Sache. Der zentrale Punkt ist natürlich, wie mehr Frieden in die Welt hineinkommt, auch in Afrika und sonst wo, dass die Menschheit insgesamt vernünftiger wird. Nach wie vor gucke ich mir die Nachrichten an, bilde mir mein eigenes Urteil und vergleiche es mit dem, was ich durchschritten habe. In der Weimarer Republik groß geworden, dann kam der Faschismus, anschließend folgte der
Weitere Kostenlose Bücher