Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
reichte es mir. Ich umarmte sie mit meiner letzten Kraft und sagte: »Warum macht ihr mir alle Hoffnung? Es gibt keine Hoffnung.«
Ich konnte mich nicht mehr wehren. Ich hatte es versucht, aber jetzt gab ich auf. Dann gingen wir zu dritt wieder rein, direkt in den Behandlungsraum. Ich gab Mama ein Zeichen, dass sie im Gang warten sollte. Nur Lars und ich.
»Wer sind eigentlich Sie?«, fragte ihn der Arzt. Lars gab ihm keine Antwort. Ich weiß auch nicht, wieso. Vielleicht wollte er einfach nicht mit diesen Doofköpfen reden. Das fand ich gut, sehr gut sogar.
»Sind Sie ein Angehöriger?«, fragte der Arzt wieder.
Ich stand auf, stellte mich schützend vor ihn und sagte stolz: »Das ist mein Bruder! Ohne ihn gehe ich nirgendwohin. Damit das klar ist!«
Lars lächelte, der Arzt nickte, und ich machte ihn stöhnend darauf aufmerksam, dass ich gegen die normalen Pflaster noch immer allergisch sei. Fünf Minuten später war es überstanden.
»Alles erledigt«, klatschte Lars gutgelaunt in die Hände, als wir zu Mama ins Wartezimmer kamen.
»Jetzt gehen wir erst mal schön frühstücken. Kaffee, frischgepresster Orangensaft, Brötchen, Rühreier mit Speck. Yeah, let’s go!«
Ich setzte mich neben Mama, legte mich in ihren Schoß und sagte genervt: »Der hat ja keine Ahnung!«
Der Wecker stand schon auf dem Tisch und tickte. Jetzt hieß es nämlich: eine Stunde warten, zur Blutabnahme, wieder eine Stunde warten, und ein drittes Mal zur Blutabnahme.
Meine Sauerstoffwerte sackten plötzlich ab, und Mama musste die Sauerstoffflasche aus der Tasche holen. Ich wollte die Scheiße nicht inhalieren, obwohl es mir nicht gutging. Ich wollte es nicht, stand auf und schlurfte ganz langsam zur Pinnwand. Neben den üblichen Broschüren mit Medizinkrams hingen dort auch jede Menge gelbe und rosa Zettelchen: eine Kontaktbörse für kranke Kinder. Ich las sie alle durch, aber die meisten Mädchen waren zu jung für mich. Bis ich darauf stieß:
Hallöchen!
Ich heiße Ayona und bin 15 Jahre alt. Habe seit einem Jahr Diabetes. Ich würde mich freuen, mich mit dir auszutauschen.
Ich schaute zu Lars, um ihn nach seiner Meinung zu fragen, aber der war damit beschäftigt, sich meinen Sauerstoff reinzuziehen. Er hatte es sich auf den Stühlen bequem gemacht und hielt sich entspannt mein Mundstück ans Gesicht. »Geiler Stoff, Alter!«, rief er mir zu. »Wenn du’s nicht willst, geb ich mir eben ’ne Dröhnung. Kein Problem!«
Ich blieb noch eine Weile stehen und starrte Löcher in die Luft, ging zurück und setzte mich neben ihn. Ich wollte nicht auch noch eine kranke Freundin haben. Es war sicher gutgemeint, überlegte ich, aber mit einem Mädchen wollte ich knutschen und fummeln und nicht über unsere Krankheiten reden.
»Gib schon her«, sagte ich leise zu Lars und atmete frische Luft ein.
Mama war nicht mehr so rot im Gesicht. Der Wecker tickte und tickte, und irgendwann klingelte er. Im Behandlungszimmer wurde mir schwindelig und übel, und ich kotzte Galle in den Mülleimer. Eine Krankenschwester brachte mich zu Mama und Lars zurück. Außer uns war niemand im Wartezimmer – Totenstille.
Durch die Fenster konnte ich eine Gruppe Kinder beobachten, wie sie vom Kiosk kamen und die Straße entlangliefen. Sie lachten. Bestimmt schwänzten sie gerade die Schule. Ich dachte an Lars und dass er bestimmt total hungrig war und er jetzt wegen mir hier sitzen musste. Ich tippte ihn an. »Bruder, hast du Hunger?«
»Könnte einen Bären verdrücken«, grinste er.
Ich zeigte ihm den Kiosk auf der anderen Straßenseite und sagte: »Hol dir doch ein belegtes Brötchen. Wir sitzen hier noch über eine Stunde.«
»Mach dir mal um mich keine Sorgen. Wir halten hier zusammen durch. Einer für alle und …«
»… alle für einen«, flüsterte ich und kuschelte mich zurück in Mamas Schoß.
Manchmal kann ich es fühlen. Wenn ich die Augen schließe und mich wie ein Baby zusammenrolle, weil die Schmerzen wieder unerträglich sind. Dann kann ich spüren, wie der liebe Gott mich testet. Er fragt mich: »Willst du wirklich schon aufgeben?« Mein erster Gedanke lautet immer: »Ja, und bitte mach es schnell.« Dann denke ich an etwas Schönes und hoffe, dass ich mit dieser Erinnerung in Ohnmacht falle und nicht mehr aufwache, was leider nie passiert. Lars sagt, dass man mit seinen Wünschen vorsichtig sein soll, denn sie könnten tatsächlich wahr werden. Wenn ich ihm nur glauben könnte.
Zum Glück war Lars mit dem Auto gekommen, und
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