Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
ausbricht, und dann brüllt er laut herum, aber er macht das doch nur, weil er sich Sorgen um dich macht. Verstehst du das?«
Ich wusste nicht, ob ich es wirklich verstand. Deswegen sagte ich: »Weiß nicht.«
»Daniel, weißt du denn nicht, dass er dich lieb hat? Er tut so viel für uns.«
Ich zuckte mit den Schultern und sagte: »Okay.«
»Die Miete, deine Medikamente, deine Klamotten, das Essen, die fünf Euro, die ich dir jeden Tag mit in die Schule gebe, damit du dir was Süßes kaufen kannst … Glaubst du, das kommt alles vom Himmel gefallen?«
Nein, vom Himmel kam das nicht gefallen. Mama gab sie mir aus ihrem Geldbeutel, also sagte ich: »Nein, sie kommen aus deinem Geldbeutel.«
»Und von wo habe ich das Geld, du Schlauberger?«
Ich glaubte, die Antwort zu wissen, war mir aber nicht sicher, also fragte ich: »Aus dem Geldautomaten?«
»Ach, Daniel, verarschen kann ich mich selbst. Ich bekomme das Geld auch von Martin. Ohne ihn könnten wir uns nichts leisten, gar nichts. Ich verdiene im Café nur 400 Euro im Monat.«
»So viel?«, sagte ich und stellte mir vor, was man für 400 Euro alles kaufen könnte.
»Martin arbeitet so hart, weil er uns lieb hat, und es wäre schön, wenn du ihm das auch mal zeigen würdest.«
Ich sagte: »Okay.«
Dann ging ich zu Papa, der auf der Couch vor seinem Computerspiel saß und drückte ihn fest. Ich sagte auch: »Hab dich lieb, Papa.«
»Ach, auf einmal hast du mich wieder lieb?«, lachte er laut. »Na, bin schon gespannt, wie lange das anhält.«
Mama stand in der Tür und sah zufrieden aus. Ich boxte sie aus Spaß in die Seite, rannte quietschend in mein Zimmer zurück und loggte mich bei Facebook ein – keine neuen Freundesanfragen. Ich habe schon 139 Freunde gesammelt, aber die meisten kenne ich gar nicht persönlich. Manchmal, wenn ich ganz einsam bin, poste ich etwas und warte, bis jemand etwas antwortet, aber meistens schreibt überhaupt niemand zurück. Außer Mama, aber das ist mir ein bisschen peinlich, weil es ja jeder lesen kann. Ich schickte Lars eine Nachricht, dass ich ihn vermisse, schaltete meinen Computer aus und knipste das kleine Licht an meinem Schreibtisch an. Der Strahl der Lampe leuchtete direkt auf mein neues Lieblingsbuch: Der träumende Delphin. Dass ich es so mochte, hatte vier Gründe:
Weil der Delphin mit Vornamen Daniel heißt, so wie ich. Sein voller Name lautet Daniel Alexander Delphin .
Weil Daniel Delphin noch ein Kind ist, so wie ich.
Weil Delphine zu meinen Lieblingstieren gehören (unser Badezimmer ist voll von ihnen: Duschvorhang, Seifenspender, Klobürste, Wand- kacheln)
Weil Lars mir das Buch geschenkt hat.
Der träumende Delphin handelt von einem jungen Delphin, der die Welt entdecken möchte, aber seine Delphin-Familie lässt ihn nicht alleine raus aufs offene Meer schwimmen. Sie glauben, dass es dort sehr gefährlich sei und vor bösen Ungeheuern nur so wimmele: fiese Haie, riesige Monster und so. Daniel verlässt das Rudel trotzdem, obwohl ihn all seine Freunde warnen, und erlebt dann viele aufregende Abenteuer. Ich glaube, er ist auf der Suche nach einer besonderen Welle, durch die er surfen kann, aber soweit habe ich noch nicht gelesen (ich bin erst auf der zweiten Seite). Ich wünschte, ich könnte auch einfach so meine Koffer packen und nach Berlin fahren. Aber das geht nicht. Ich bin genauso eingesperrt wie die armen Delphine in diesen blöden Delphinarien. Im Fernsehen habe ich gesehen, dass Delphine, die in Gefangenschaft gehalten werden, nicht an Futtermangel sterben oder so, sondern an Einsamkeit. Ich kann sie wirklich gut verstehen. Sie wünschten, sie könnten rausschwimmen, in die Freiheit, aber so sehr sie sich auch anstrengen, ihre Nase knallt immer wieder gegen eine unsichtbare Wand. Am Anfang probieren sie es noch, aber dann merken sie, dass es keinen Sinn macht, außer dass die Schmerzen an der Nase und im Herzen immer größer werden. Und wenn sie erkennen, dass es ihr Leben lang nie anders sein wird, fangen sie an zu sterben. Ganz langsam. Wie bei mir. Wie soll man so nur die Hoffnung behalten? Ich schlug das Buch auf und las mir selbst daraus vor, ganz leise: Und die Stimme des Meeres drang direkt in Daniels Herz: Gerade in der größten Verzweiflung hast du die Chance, dein wahres Selbst zu finden. Genauso wie Träume lebendig werden, wenn du am wenigsten damit rechnest.
Ja, das wäre wirklich schön. Ich meine, wenn Träume wirklich lebendig werden könnten. Die Tage wären so viel
Weitere Kostenlose Bücher