Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
Dort herrscht ein ziemliches Durcheinander. Wenn du bei jedem Herzstich denkst, dass es der letzte sein könnte, der Stich, der dich ins Grab bringt, dann kommst du dir so verloren vor. Niemand kann sich das vorstellen. Meistens gehe ich dann in mein Zimmer, um alleine zu sein, setze mich mit Anna auf mein Sofa und träume von einer schöneren Welt, einer Welt ohne Krankheiten und einer Welt, in der sich alle liebhaben. Manchmal frage ich mich, warum der liebe Gott nicht gleich so eine Welt erschaffen hat. Ich meine, eine Welt, wie sie nur in der Phantasie existiert. Das wäre so wunderschön.
Früher mochte ich Sonntage wirklich gerne, weil an Sonntagen Mama und Papa immer zu Hause waren und wir den ganzen Tag auf dem Sofa verbrachten. Heute mag ich sie nicht mehr so sehr, weil Lars sonntags oft zurück nach Berlin fährt und mich alleine lässt. In diesen Augenblicken bete ich zum lieben Gott, dass Lars mich anlächelt und sagt: »Bruderherz, pack deinen Koffer. Ich nehme dich mit!« Aber das wird wohl nie passieren. Dafür durfte ich mit seinem Auto fahren. Lars hatte extra für mich einen 5er-BMW mit automatischer Gangschaltung ausgeliehen, weil die einfacher zu bedienen ist und der Motor nicht ausgeht, wenn man etwas falsch macht. Auf dem Parkplatz von Aldi tauschten wir die Plätze. Mein Herz klopfte. Dann ging es los. Ich drückte mit meinem rechten Fuß aufs Gaspedal, das Auto bewegte sich, ich lenkte um die Kurven, gab wieder Gas, bremste, drückte auf’s Gas. Ich durfte zwar nur ein paar Minuten fahren, aber die fühlten sich wie Stunden an. Lars lobte mich, dass ich das richtig toll gemacht hätte, und wir klatschten uns ab. Dann setzte er sich zurück auf den Fahrerplatz und öffnete das Schiebedach. Ich zog meine Schuhe aus, um den Sitz nicht schmutzig zu machen, stellte mich aufrecht hin und streckte meinen Kopf aus dem Dach. Der Fahrtwind brauste mir ins Gesicht, und ich schrie so laut ich konnte. Vor Glück. Vor Freude. Vor Leben. Verdammt, fühlte sich das geil an! Lars fuhr immer schneller. Ich breitete meine Arme aus, schloss meine Augen und stellte mir vor, wie ein Adler durch die Lüfte zu fliegen. Zum Glück bin ich gestern noch nicht gestorben, freute ich mich in dem Moment. Zu Hause erzählte ich Mama von unserem Abenteuer, und sie war richtig stolz auf mich. Sie nannte mich »Daniel Schumacher«. Papa und Lars lachten darüber, aber ich kapierte mal wieder nicht warum. Ich zog meinen Astronautenschlafanzug an, legte mich ins Bett und schlief ein. Als ich am Abend aufwachte, um aufs Klo zu gehen, war Lars verschwunden. Meine Beine fühlten sich wie Wackelpudding an. Ich musste zwar nur Pipi, aber ich setzte mich trotzdem auf die Klobrille, weil ich kaum Kraft hatte, mich länger als ein paar Sekunden auf den Beinen zu halten. Und ich wollte nicht vorbei pinkeln. Dann kletterte ich zurück ins Bett. Mir ging es nicht gut, gar nicht gut. Reiß dich zusammen, sagte ich mir, als ich Josi ganz dicht an mich heranzog. Morgen ist schon wieder ein neuer Tag in der Traumfabrik. Neuer Tag, neues Glück.
Die Schmerzen blieben. Ich überstand die Schule und das Hospiz und war ziemlich stolz auf mich. Während des Mittagessens hatte ich komplett auf Fleisch verzichtet und keine Süßigkeiten gegessen, nur Erbsensuppe und etwas Salat, so wie Lars das gemacht hätte. Ich nahm mir heute vor, Vegetarier zu sein. Mama fand das eine gute Idee und nahm mich gleich in den Arm und knuddelte mich. Ich wollte doch nur ein bisschen wie mein großer Bruder sein. Er hat alles, wovon ich träume: eine eigene Wohnung in Berlin, ein Auto, genug Geld für Partys, viele Freunde. Nur eine feste Freundin hat er nicht, aber dafür sorge ich schon noch. Das habe ich mir fest vorgenommen. Als Sondermission. Bevor ich sterbe.
Ich wählte seine Nummer.
»Schläfst du schon?«
»Nee, hab mir gerade eine Pizza geholt. Aber draußen ist es so arschkalt, dass sie schon wieder kalt geworden ist. Hab sie in den Ofen geschoben.«
»Ist sie vegetarisch?«, fragte ich.
»Klaro, eine Margherita. Und dazu gibt’s einen gemischten Salat mit Schafskäse und schwarzen Oliven.«
»Ich werde jetzt auch Vegetarier, so wie du.«
»Sehr gut«, lachte Lars. »Du weißt aber schon, dass gebratener Bacon, den du so liebst, auch Fleisch ist.«
»Echt?«
»Ja.«
»Scheiße.«
Dann lachten wir beide ganz laut.
»Bruderherz?«, sagte ich leise.
»Hmm, was’n los?«
Ich hörte, wie Lars seine Ofentür öffnete.
»Bist du noch
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