Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
mich war es völlig klar, dass wir ihn besuchen gingen. Obwohl Samstag war. Ich kenne das Gefühl, wie es ist, dort zu liegen und mit jedem Atemzug den Tod zu spüren. Deswegen war es mir wichtig, ihm persönlich alles Gute zu wünschen, damit er wusste, dass er nicht alleine war. Ich hätte ihn auch gerne angerufen, aber er besitzt kein Handy, weswegen das nicht ging. Das Schicksal hatte ihn schwer getroffen. Seine Hände sind so steif, dass er sie fast nicht bewegen kann. Wenn er sie doch versucht zu bewegen, sieht das manchmal ziemlich lustig aus. Aber denkt man genauer darüber nach, ist es überhaupt nicht lustig. Alexej tut mir leid, weil er vollkommen auf fremde Hilfe angewiesen ist. Ich kann wenigstens laufen. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich war der einzige Junge aus meiner Klasse, der ihn im Todeshaus besuchte. Alexej war bestimmt traurig deswegen. Manchmal muss man für andere Menschen eben Dinge tun, die man selbst gerne hätte. Vor allem für Menschen, die man lieb hat.
Meine Ex-Freundin hatte ich nicht mehr lieb. Ich hätte sie aber trotzdem im Krankenhaus besucht, weil sich das als Gentleman der alten Schule so gehört. Ihr ging es aber offensichtlich blendend, denn sie schrieb mir eine SMS, in der stand: Na, wie geht’s?
Ich wusste natürlich aus bitterer Erfahrung, dass sie es nicht ernst meinte. Also, dass sie nicht wirklich wissen wollte, wie es mir ging, sondern sich nur die Zeit vertreiben wollte. Ich rief sie an und bat sie, mir keine SMS mehr zu schreiben. Sie sagte: »Okay.« Dann legten wir wieder auf. Mein Herz war über sie hinweg, und ich wollte mich von ihr nicht mehr herumkommandieren lassen. Gut gemacht, sagte ich zu mir und freute mich im nächsten Augenblick schon auf Berlin. Dort würde es vor Mädchen nur so wimmeln. Mein Herz pochte wie wild bei dem Gedanken, und ich schaltete schnell meinen Computer an, um zu sehen, ob Lars online war.
»Bruder, ich nehme auf jeden Fall mein Kondom mit nach Berlin«, sagte ich zur Begrüßung.
»Ach echt, ja?«, grinste Lars und hing ganz krumm in seinem Schreibtischstuhl. »Wie viele hast du denn?«
»Eins«, sagte ich.
»Dann musst du dir ja gut überlegen, wer die Glückliche sein wird.«
»Wie, kann man das nur einmal benutzen?«
»Hahaha, ja schon.«
»Darüber mache ich mir jetzt keine Gedanken. Du kannst dich auf jeden Fall warm anziehen. Und du brauchst gar nicht so zu lachen. In Berlin wird Party gemacht. Bis zum Umfallen.«
»Wenn du das sagst, Kleiner. Dein Wunsch ist mir Befehl.«
Ich plauderte noch ein bisschen mit ihm, aber insgeheim machte ich mir Sorgen um Mama. Wegen Berlin. Was sollte sie denn drei Tage lang tun, wenn ich bei meinem Bruder war? Lars hatte für sie ein Hotel organisiert, aber ich vermutete, dass ihr schon nach einer Stunde langweilig werden würde, so ganz ohne mich. Ich bekam ein schlechtes Gewissen und fragte Lars, ob Mama bei Tamtam übernachten durfte oder ob wir wenigstens an einem Abend zusammen essen könnten. Lars sagte: »Auf gar keinen Fall. Wir machen Party. Und zwar mit Mädchen und ohne deine Mutter. Ganz bestimmt ohne deine Mutter. Mach dir mal um sie keine Sorgen. Die ist sicher froh, ein paar Tage nur für sich zu haben und auszuspannen.«
Die Wahrheit war, dass ich Angst hatte, ohne meine Mama zu sein. Ich wollte zwar mit Lars um die Häuser ziehen (und wie!), aber gleichzeitig fürchtete ich mich auch. Es ist schwer zu erklären. Im Sommer, nach meiner letzten Operation, hatten wir nämlich eine geheime Abmachung getroffen. Mama musste mir versprechen, dass sie mich mein Leben leben lässt und mir nicht alles verbieten würde, was Spaß machte. Und wenn das bedeutete, dass ich eines Tages auf der Straße tot umfiele, dann wäre das eben so. Das war meine Bedingung, bevor ich zustimmte, ins Kinderhospiz zu gehen. Wenn mein Leben schon so kurz sein würde, dachte ich mir, dann wollte ich es wenigstens so gestalten, wie ich es mir vorstellte. Scheiß auf die Ärzte und ihre ständigen Verbote!
Trotzdem: Alles, was neu ist, was ich nicht kenne, bereitet mir Angst. Ich tue mich auch sehr schwer damit, neue Situationen zu verarbeiten. Wenn ich mich über etwas freue, zum Beispiel, wenn Lars mir einen Wunsch von meiner Liste erfüllt, dann realisiere ich das meistens erst einen Tag später. Manchmal dauert es sogar noch länger. In dem Moment der Überraschung herrscht nur Durcheinander in meinem Kopf, und ich sage Sachen, die ich nicht so meine und tue Dinge, die blöd und gemein sind.
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