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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Tag an, damit es ihr besser geht.«
    Und was ist daran so verkehrt, hätte Shep fast gesagt, aber er biss sich auf die Zunge. Glynis wollte nicht, dass es anderen besser ging. »Jackson benimmt sich in letzter Zeit etwas seltsam«, sagte er und bettete ihre Füße auf ein paar Kissen. Das Hochlegen der Füße konnte die Schwellung zwar nicht verhindern, aber wenigstens in Schach halten.
    »Wie denn?«
    »Schwer zu sagen. Distanziert.« Er massierte ihr den Fußspann. Die geschwollenen Zehen standen einzeln ab wie winzige zusammengeschnürte Luftballons. »An manchen Tagen macht er sich in der Mittagspause rar, wo wir die eine ›Stunde‹ doch immer zusammen verbracht haben. Irgendwas scheint ihn zu beschäftigen. Wenn wir dann doch mal durch den Prospect Park laufen, sagt er kaum etwas.«
    »Das ist ja mal was ganz Neues.«
    »Vielleicht weiß er nicht, wie er mir gegenüber mit deiner Krankheit umgehen soll.« Ihre Fesseln waren immer so schlank gewesen! Er wollte ja, dass sie wieder zunahm, aber doch nicht an den Füßen. »Als du noch im Krankenhaus warst, schien er die Sache eigentlich im Griff zu haben, aber meistens, wie du sagst, mit diesen serienmäßigen Schimpftiraden …«
    »Das war ein Segen. Da musste ich mich wenigstens nicht unterhalten – Shepherd, ich will nicht undankbar sein, aber ich spüre überhaupt nichts.«
    »Er hat sich mit dem, was los ist, überhaupt nicht auseinandergesetzt«, sagte Shep und gab dem Fuß einen abschließenden Klaps, um die Kränkung zu überspielen. Gekränkt zu sein war sinnlos. »Gefühlsmäßig.«
    »Jackson ist der abgekapselste Mensch, den ich kenne. Ich weiß nicht, wie Carol das aushält. Er ist der Typ, der in Gruppen extrem unterhaltsam ist. Aber unter vier Augen, bei mir zumindest, kriegt er nicht mal einen Satz wie ›Reich mir bitte das Salz‹ über die Lippen. Aber zwischen euch beiden muss das doch anders sein.«
    Shep spürte die Erschöpfung in ihren Bemerkungen. Glynis war sehr gut darin, Charaktere zu analysieren. Sie war keine künstlerische Eremitin und hatte ein großes Netzwerk an Freunden. Ein beliebter ehelicher Zeitvertreib war immer die genüssliche, manchmal grausam präzise Analyse ihres Bekanntenkreises gewesen. Aber heutzutage musste Glynis schon so viel Energie aufwenden, um überhaupt einen Gedanken zu äußern, dass für die Meinung selbst kaum noch Platz blieb. Im Verlauf eines jeden x-beliebigen Tages gab es jede Menge Gedanken, die zu artikulieren sie einfach nicht die Kraft aufbrachte – den beschwerlichen Prozess zu durchlaufen, Wörter auszusuchen und sie in die richtige Reihenfolge zu bringen; ihren Mund zu öffnen, Luft durch ihre Kehle zu drücken, die Stimmbänder in Schwingungen zu versetzen. Shep hatte Mitleid, fühlte sich aber auch betrogen. Erschreckend bald würden die Überlegungen seiner Frau nicht mehr endlos zur Verfügung stehen und stattdessen eine endliche und eher dürftige Zitatensammlung darstellen, wie sie in den humorigen kleinen Bändchen zu finden waren, die zur Weihnachtszeit in den Buchhandlungen an der Kasse verkauft wurden.
    »Es war tatsächlich mal anders zwischen Jackson und mir«, sagte Shep. »Aber in letzter Zeit haben sogar die Schimpftiraden –«
    »Er ist so wütend, aber ich weiß nicht genau, auf was.«
    »Ich weiß nicht, ob man das ›Wut‹ nennen soll, wenn man sich dabei so amüsiert.« Er schenkte ihr ungebeten ein Glas Sodawasser ein und drückte eine Scheibe Limette darin aus. Er konnte keinen Leerlauf ertragen, keine Sekunde, in der er nichts für sie tat. »Aber in letzter Zeit schwingt irgendwas in seiner Stimme mit. Er hat keinen Spaß.«
    »Das ist eine Art Sperre, eine« – die Wörter waren schwer zu finden und schwer über die Lippen zu bringen – »Ausstrahlung. Ein Kraftfeld, um sich andere vom Leib zu halten.«
    »Ich muss immer wieder daran denken, als ich ihn neulich in der New-York-Methodist-Klinik besucht habe, als er diese ›Infektion‹ hatte und am Tropf hing und Antibiotika bekam. Er hat nie genau gesagt, um was für eine ›Infektion‹ es eigentlich ging. Fand ich schon seltsam. Normalerweise ist doch immer irgendetwas entzündet, oder?«
    »Ich weiß nicht; ich war auch drei Mal hintereinander wegen einer ›Infektion‹ im Krankenhaus.«
    »Aber das liegt daran, dass du für jede umherirrende Bazille empfänglich bist. Und erzählt man normalerweise seinen Besuchern nicht detailliert von seiner Behandlung? Hat er auch nicht gemacht. Wir haben nicht

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