Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
Vom Netzwerk:
einfach nur selbst besser fühlen. Sie gehen alle auf Nummer sicher. Sie gehen auf Nummer sicher , dass sie später kein schlechtes Gewissen zu haben brauchen. Sie haben ja ihre Pflicht getan. Sie haben ihren kleinen Text aufgesagt. Sie können zurück zu ihren fröhlichen Dinnerpartys und geselligen Feiertagen und Kindern, sie können wieder über die Fahrradwege von Tuscon radeln. Sie können mit gutem Gewissen zurück zum Tennis und zum Wein und zum Kino.«
    »Du willst nicht, dass sie … ein gutes Gewissen haben?«
    »Ich versuche wieder gesund zu werden. Ich lasse mir nicht aus Spaß an der Freude alle zwei Wochen dieses Gift in die Adern spritzen, sondern weil ich wieder gesund werden will. Und dann kommen diese Leute und lesen mir meine eigene Traueranzeige vor, Shepherd! An manchen Nachmittagen habe ich nicht mal mehr das Gefühl, dass ich persönlich anwesend bin. Es ist, als wären die Leute zur Leichenschau gekommen, als läge ich aufgebahrt in meinem Sarg. Ich bin hier am Kotzen und habe am ganzen Körper diese ekelhaften Ausschläge, letzte Woche konnte ich kaum schlucken wegen der Geschwüre in meinem Mund. Ja, ich sehe aus wie eine Leiche, aber noch bin ich hier und lasse diesen ganzen Scheißdreck über mich ergehen. Es bringt mir nichts, wenn diese Arschlöcher reihenweise durch mein Schlafzimmer ziehen und Erde auf mein Grab werfen!«
    »Ist ja gut«, sagte er und bettete ihren Kopf an seine Schulter. »Ich versteh’s jetzt.« Dem unaussprechlichen Wort mit T war sie in all den Monaten nie so nahe gekommen wie in diesem Moment.
    ER ÜBERREDETE SIE, etwas zu essen – Kartoffelbrei, schlug er vor, etwas Kartoffelbrei wirst du doch runterkriegen. Beruhigend, geschmeidig. Sie willigte nur ein, weil sie wusste, dass er nicht lockerlassen würde, und nachdem sie nun so viel Galle gespuckt hatte, blieb ihr keine Kraft mehr, um sich noch weiter aufzulehnen. Er schälte und kochte zwei große Backkartoffeln und zerstampfte sie zusammen mit einem Becher Sahne und so viel Butter, dass sich die Stärke fast nicht mehr binden ließ. Optimistisch, wie er war, holte er ein paar Brathähnchenreste aus dem Kühlschrank, man konnte es ja mal versuchen. Obwohl er selbst keinen Hunger hatte, nahm er zwei Teller heraus und gab sich eine großzügige Portion auf den Teller – als hätte er tatsächlich einen herzhaften Appetit. Alleine würde sie nichts essen. Fürs Auge garnierte er den Teller mit etwas Petersilie und einer Scheibe Tomate. Bei der ersten Gabel machte er Mmmm , genau wie damals, als die Kinder noch klein gewesen waren und er sie dazu bringen wollte, etwas Neues zu kosten, das sie zunächst argwöhnisch beäugten. Glynis sah auf ihren Teller, als hätte er ihr eine frisch verquirlte Portion Fugendichtung vorgesetzt.
    »Probier doch wenigstens einen Happen«, sagte er ermutigend.
    Die Menge Kartoffelbrei, die sie sich auf die Gabel schob, hätte nicht einmal einen Hamster satt gemacht.
    Shep hatte eigentlich einen Allesfresser-Stoffwechsel und hatte früher in den Mittagspausen unbekümmert fünf Zentimeter dicke Pastrami-Sandwiches in sich hineingestopft. Aber das war damals, als er für den Job noch viel unterwegs war, Nägel klopfte, auf Leitern kletterte und 25-Kilo-Zementsäcke schleppte. Nachdem er bei Allrounder zur Führungskraft aufgestiegen war, hatten sich die Pfunde bei ihm angesammelt, und er hatte seine Eitelkeit entdeckt. Seitdem hatte er Glynis bei jeder Diät Gesellschaft geleistet und ihren Missmut darüber besänftigen können, dass er fressen konnte wie ein Pferd, während sie essen musste wie ein Spatz, um ihr Gewicht zu halten. Sie hatten grundsätzlich nur fettarme Milch im Haus und jene rein pflanzlichen Sandwichbeläge, die nach Motoröl schmeckten. Wie die meisten ihrer Bekannten über vierzig hatten sie jahrelang die Lebensmittel in ihrem Kühlschrank mit dem Argwohn zweier missgünstiger Gastgeber betrachtet, die feindliche Truppen bei sich einquartieren mussten. Da er immer das Gefühl hatte, es könne nicht schaden, ein bis zwei Pfund abzunehmen, schmeckte längst jeder Bissen nach Selbstvorwurf, und was Glynis anbelangte – Frauen waren in dieser Hinsicht bekanntlich noch schlimmer. Und plötzlich hatten sich seine Ängste komplett umgekehrt. Er musste mit ansehen, wie sich seine Frau vor seinen Augen in Luft auflöste.
    Wenn er in diesen Tagen einkaufen ging, warf er einen prüfenden Blick auf die Kalorienangaben, und wenn sie nicht hoch genug waren, stellte er das

Weitere Kostenlose Bücher