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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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aus der Bibel vorlesen zu müssen. Gabe Knacker hatte seinen Glauben an Gott nicht wiedererlangt, aber den Glauben an seinen Sohn, und das war vermutlich wichtiger.
    Gut, dass er auf der Lichtung noch Platz gelassen hatte. Genau wie Shep hatte sich Flicka auf den ersten Blick in Pemba verliebt und nie ein einziges nostalgisches Wort über Brooklyn fallengelassen. Nachdem sie gelernt hatte, ihre typischen Frotzeleien auch auf Suaheli zu machen, gehörte sie bald zum örtlichen Inventar. Unter den Wapemba waren Behinderungen, entstellende Krankheiten und genetische Abnormalitäten keine Seltenheiten, und ein Mädchen mit seltsamer Hakennase und vorstehendem Kinn, das als Sonnenschutz von Kopf bis Fuß in kangas gehüllt war und auf allen vieren über den Boden kroch, schien niemanden aus der Ruhe zu bringen. Doch für ein Kind mit FD war eine brütend heiße afrikanische Insel der schlimmste Ort der Welt, und jedes Mal, wenn Flicka anfing zu würgen und eine ihrer »Krisen« hatte, machte sich Shep Vorwürfe, dass es unverantwortlich gewesen war, sie hierherzubringen. Aber wer hätte sagen können, ob nicht genau am selben Abend zu Hause in New York das Gleiche passiert wäre? Nachdem sie sich die Zähne geputzt, sich die Augen benetzt und mit Vaseline eingeschmiert und mit Plastikfolie bedeckt hatte, legte sich Flicka an einem ganz normalen Abend unter ihrer surrenden privaten Klimaanlage ins Bett und wachte nicht wieder auf.
    Was sie davon abhielt, ihren alten Schwur in die Tat umzusetzen und irgendwann einem Leben ein Ende zu setzen, das, wie sie immer wieder beteuert hatte, eine unverhältnismäßige Last war. Weder Shep noch Carol hatten sie in dieser Sache ernst genommen, bis sie betrübt die Besitztümer der jungen Frau zusammenpackten. Versteckt in einem kleinen Rucksack, den Flicka – übrigens – ständig bei sich getragen hatte, entdeckten sie einen Vorrat Pillen. Der Rucksack war eine Wundertüte voller Medikamente, die – übrigens – nach und nach auf mysteriöse Weise verschwunden waren: die Antidepressiva aus der Morgentau-Residenz, die sein Vater abgesetzt hatte, Heathers restliches Zoloft, Glynis’ Vorrat »Marzipan« und beunruhigenderweise auch der Rest flüssiges Morphium. Sie würden nicht mehr erfahren, ob sie tatsächlich vorgehabt hatte, Schluss zu machen, oder ob sie den Rucksack einfach nur mit sich herumgetragen hatte wie einen Talisman, eine Zauberlaterne mit einem letzten freien Wunsch. Jedenfalls hatte Flicka bestimmt ihre Freude am dauerhaften Zugang zu ihrer ganz privaten nuklearen Lösung gehabt, durch die jeder weitere Tag mit Medikamenten, Infektionen und Schluckenlernen zumindest nicht ausschließlich Strafe, sondern auch eine Entscheidung gewesen war.
    Mit drei Opfergaben an die Erde jener Lichtung hatte Shepherd Knacker seinem Nachnamen alle Ehre gemacht.
    Dass ihre Gruppe von sieben auf vier schrumpfen würde, war natürlich unvermeidbar gewesen. Da Zach immer mehr Zeit in Fundu Lagoon verbrachte, waren sie effektiv eine dreiköpfige Familie. Beryls Empörung über die »niederträchtige« Entführung ihres Vaters, der sie durch Sheps Mobiltelefon hindurch Ausdruck verlieh, war wohl der Grund, dass sich ihr Verhältnis nicht mehr wesentlich besserte. (Beryl ärgerte sich schwarz über ihren sozialen Abstieg. Ihr Bruder, der langweilige, gesellschaftskonforme Geschäftsmann, der »Philister«, dreht plötzlich durch und setzt sich auf eine obskure tropische Insel ab. Unterdessen hockt die wahre Künstlerin, die wahre Abenteurerin der Familie, in ihrem Elternhaus, eingemummelt in zwei Pullover und einen Pelzmantel aus dem Secondhandladen, und versucht, einen Dokumentarfilm zum Thema »Energiearmut« zu konzipieren.) Amelia dagegen war dank der vielen E-Mails von Zach, in denen er detailliert seine Tauchgänge, die Delfine und schimmernden Sonnenaufgänge schilderte, neidisch geworden. Da ihr Vater nicht mehr für sie aufkam und sie einen richtigen Job hatte annehmen müssen, bei dem sie »Derivate« verkaufte – was immer das sein mochte –, hatte sie versprochen, zu Besuch zu kommen, wenn nicht gar sich selbst davonzumachen. Shep war etwas mulmig zumute; die Vorliebe seiner Tochter für bauchfreie Tops und bis zum Schamhaar tief sitzende Jeans würde sich auf einer überwiegend muslimischen Insel weniger gut machen. Doch solange sich Amelia die Schultern bedeckte und knielange Röcke trug, sah er ein, dass eine Pilgerfahrt zu Glynis’ Grab sie vielleicht in ihrer Trauer

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