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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Medikamente aus deinem Körper gespült hast. Versuch den Blick auf die Zielgerade zu richten.«
    »Ich kann nur sagen, wenn ich Den Lift nach Manhattan ›unglaublich gut‹ vertrage, dann möchte ich nicht wissen, was schlechte Verträglichkeit heißt.«
    Der Lift nach Manhattan bezog sich natürlich auf Alimta und Cisplatin. Die lustigen Spitznamen hatten für seine Frau nicht nur einen hohen Unterhaltungswert, sie bedeuteten auch eine Vereinnahmung, ein fragiles Machtgefühl. Sie würde sich nicht tyrannisieren lassen von der Pharmaindustrie mit ihren munteren Unsinnsnamen, deren unterschwelliger Positivismus angesichts des tatsächlichen menschlichen Leidens Glynis’ gnadenlosen Spott erntete: Emend (Amen), Ativan (Atem sparen), Maxidex (Mach ’ s auf ex) . Dabei hatte Glynis selbst eine gewisse Neigung, die schweren, verboten vielsilbigen Generika zu kapern und in harmlose, ja liebenswürdige Abweichungen zu verwandeln: Lorazepam versüßte sie zu Marzipan , Domperidone schäumte sie zu Dom Pérignon auf, und Lanzoprazol verdrehte sie zum langsamen Walzer. Die Mehrzahl dieser Medikamente sollte den Spezialeffekten der Chemotherapie entgegenwirken; auch diese Medikamente hatten Spezialeffekte , denen wiederum andere Medikamente mit womöglich wieder anderen Spezialeffekten entgegenwirkten, sodass die Anzahl der Pillen und Zaubermittel, die sie schlucken musste, potenziell unendlich war. Daher konnte keiner ihrer heiteren Kosenamen über den Umstand hinwegtäuschen, dass, wie Glynis zu sagen pflegte, ihr Körper »eine Giftmülldeponie« geworden war.
    »Zumindest scheint die Übelkeit in deinem Fall nicht länger als ein paar Tage anzudauern«, bemerkte Shep. »Viele Leute kotzen sich über Wochen die Seele aus dem Leib.«
    »Mann, da hab ich aber Glück gehabt.«
    Shep hielt die Strickjacke gegen das Licht. Noch immer waren blasse lilafarbene Schatten zu sehen. Morgen in der Mittagspause würde er sie in die Reinigung bringen. In drei Stunden musste er »aufstehen«, vorausgesetzt, er schaffte es noch ins Bett, was zweifelhaft war. »Hast du heute mit deiner Mutter gesprochen, oder musste sie wieder mit deiner Mailbox vorliebnehmen?«
    »Nein, ich habe nicht mit ihr gesprochen. Warum sollte ich? Was gibt’s schon zu sagen? Ja, ich habe meine Folsäure und mein Pterodactyl genommen.« (Selbst Shep musste kurz nachdenken, bis ihm einfiel, dass das Medikament in Wirklichkeit Pyridoxin hieß.) »Ich habe in letzter Zeit nichts erlebt. Ich sehe den ganzen Tag nur fern. Wir können uns nicht mal übers Wetter unterhalten. Wenn man nicht mehr aus dem Haus geht, gibt’s auch kein Wetter. Am Ende unterhalten wir uns eine halbe Stunde darüber, was ich gegessen habe.«
    »Das heißt, nicht genug.«
    »Jetzt fang nicht wieder damit an.«
    »Ich hab nie damit aufgehört.« Shep suchte einen Kleiderbügel und hängte die Strickjacke behutsam auf, um zu verhindern, dass beim Trocknen die Ellenbogen ausbeulten. Während er im oberen Stockwerk war, spülte er den Waschlappen aus und nahm die Blutstropfen auf dem Teppich in Angriff. Es gelang ihm lediglich, die einzelnen Tupfer in große rosafarbene Flecken zu verwandeln. Es war ein Schaden, dem er früher mit exzessivem Schrubben und scharfen Reinigungsprodukten beizukommen versucht hätte. Er hätte Angst um ihre Kaution gehabt, dass der Vermieter ihnen den Teppich in Rechnung stellen würde. Jetzt dachte er, scheißegal, ich tu nachher ein bisschen Salz drauf. Der Teppich seines Vermieters kümmerte ihn nicht. Ihre Kaution kümmerte ihn nicht. Also kümmerten ihn auch die Flecken im Flur nicht, und er warf den nassen Waschlappen ins Waschbecken. In Anbetracht der Sterblichkeit seiner Frau empfand er der eigenen Zukunft gegenüber eine befreiende Teilnahmslosigkeit. Die Anzahl der Dinge, die allmählich keine Rolle mehr spielten, ging gegen unendlich.
    Zurück in der Küche, nahm er den Faden wieder auf. »Ich weiß, diese Telefonate sind mühsam. Aber deine Mutter will doch nur wissen, wie du dich fühlst.«
    »Ich habe Krebs! Ich fühle mich zum Kotzen! Wie soll ich mich sonst fühlen!« Glynis’ Atem ging wieder rasselnd. Die Anämie machte ihr Atemprobleme.
    »Sie will nur eine gute Mutter sein«, sagte Shep.
    »Sie will nur so tun , als wäre sie eine gute Mutter. Es ist alles nur Show, damit sie ihren anderen alten Schabracken erzählen kann, wie ach so fürsorglich sie doch ist. Sie will deren Mitleid einheimsen. Mitleid mit ihr , nicht mit mir . Sie ruft jeden

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