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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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von dem, was sie gesehen haben könnte. Mit einer Hand unter ihrem Ellenbogen schob er sie rasch zum Bad am Ende des Flurs. Sie hatte auf den beigefarbenen Teppich geblutet. Es war kein vorwurfsvoller Blick, mit dem er die Blutspur bemerkte; nur war jetzt er für den Haushalt verantwortlich, und er würde die Flecken wegschrubben müssen, bevor sie in die Fasern eindrangen. »Lass den Kopf im Nacken.«
    Er schnappte sich einen Waschlappen, befeuchtete ihn und fuhr ihr damit über den Arm. Beim Entfernen der Schlieren traten die stecknadelgroßen Stiche auf ihrer Haut zutage, die sich nicht würden abwaschen lassen. Als hätte sie sich auf dem Bildschirmstrand gesonnt, war ihre Haut auch jetzt im Mai dunkel, fast gebräunt, nur grauer, gelber, trüber. Die Farbe ließ ihn an jene künstlichen Bräunungscremes denken, von denen sich niemand täuschen ließ. Und betrübt stellte er fest, dass sie trotz Dexamethason wieder einen schuppigen roten Ausschlag hatte. Die Haut war entzündet; sie hatte wieder gekratzt.
    »Ich musste natürlich gerade diese Strickjacke anhaben.«
    Er half ihr aus der bodenlangen Jacke aus cremefarbenem Kaschmir, einem Kleidungsstück, das sie über alles liebte. Die luxuriöse Strickjacke hatte die Wärme und Behaglichkeit eines Morgenmantels, nur dass sie darin nicht so deprimierend unangezogen wirkte, und jetzt war sie voller Blut. Sie musste also mit dem Morgenmantel vorliebnehmen, den er ihr holte, wobei er ihr versprach, auch noch das kleinste Tröpfchen Blut aus der Strickjacke auszuwaschen. Alles, was ihr Wohlwollen auslöste, was auch nur im Geringsten ihre Zuneigung für das Hab und Gut dieser Erde erhöhte, würde vor dem Teppich Vorrang haben.
    Er brachte ihr eine Schachtel Papiertaschentücher und bettete sie auf dem mit Kissen gepolsterten Zweiersofa, das er in die Küche gerückt hatte, damit sie dort in eine Decke gehüllt sitzen konnte, während er die gemeinsamen Mahlzeiten zubereitete. Oder das, was von ihren Mahlzeiten noch übrig geblieben war. Mit diversen Häppchen hatte er mehr Glück als mit imponierenden Gerichten. Weil sie oft nicht die Kraft hatte, aufzustehen und sich an den großen Tisch zu setzen, hatte er einen kleinen Wohnzimmertisch reingeholt, an dem auch er sein Abendessen zu sich nahm, damit sie sich nicht ausgegrenzt fühlte. Shep legte ihr eine Fleecedecke um die Schultern. Zumindest das Nasenbluten schien aufzuhören.
    »Tut mir leid wegen der Sauerei«, sagte sie, während er mit der Strickjacke zur Spüle ging. »Ich hätte besser aufpassen sollen, aber durch diese pneumatische Antipathie« – sie meinte natürlich periphere Neuropathie – »bin ich so ungeschickt geworden. Ich kann das Papiertaschentuch kaum noch spüren, und dann denke ich immer, ich hab’s in der Hand, dabei hab ich’s gar nicht in der Hand und lass es fallen. Total unheimlich. Fast als hätte ich gar keine Hände. Als wären sie mir amputiert worden.«
    Beim Auswaschen und Ausdrücken und erneuten Auswaschen versuchte Shep sowohl energisch als auch gelassen und routiniert zu wirken, als wäre das, was er zu tun hatte, völlig unproblematisch. Natürlich war es unproblematisch, doch es war eine Kunst für sich, auch tatsächlich diesen Eindruck zu erwecken.
    »Ich kann nur hoffen, dass es stimmt und die Symptome wieder weggehen, wenn wir mit dieser Runde fertig sind«, sagte sie. »Wenn ich meine Hände nicht spüre, werde ich wohl kaum mit der Metallsäge loslegen können.«
    »So wie ich’s verstanden habe, ist der einzige Spezialeffekt , um den sie sich sorgen, der permanente Verlust des Gehörs.«
    »Entschuldigung, was hast du gesagt?«
    Er sprach lauter. »So wie ich es verstanden habe –«
    »Shepherd. Das war ein Witz.«
    Natürlich, ein Witz. Wie konnte ihm das entgangen sein. Es erforderte seine volle Konzentration, sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass Glynis immer noch Glynis war – eine echte Pogatchnik-Tautologie – und dass er sie nicht zu sehr mit Samthandschuhen anfassen oder wie ein Kind behandeln durfte. Doch das, was er als Nächstes sagte, war in der Tat elternhaft und löste ein altbekanntes Unbehagen aus, eine ähnlich perfide Komplizenschaft wie ganz am Anfang bei Dr. Knox.
    »Du musst dich darauf konzentrieren, dass das alles wieder vorbeigeht«, sagte er. »Mir ist klar, dass das für dich die längsten neun Monate deines Lebens sind. Aber die Ausschläge, das Wundsein und die Neuropathie, das alles hört wieder auf, sobald du die

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