Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
man offenbar weder gesehen noch gehört wurde, so ähnlich sein musste, als wäre man tot. Er lebte nicht mehr mit einer Ehefrau zusammen; er war nur noch ihr Quälgeist. Mit der Entnervtheit einer überzeugten Rationalistin, die sich dem unsichtbaren Treiben des Paranormalen stellen musste, schien sie gelegentlich zu entdecken, dass ein Sandwich verzehrt oder ein Sockenpaar getragen worden war.
Hinzu kam, dass jedes Plakat für Haarcolorationen, jede Fernsehreklame für Schokolade, jeder nicht-jugendfreie Spätabendfilm und jede Zote im Büro dafür warben, dass, ganz im Gegenteil, Sex doch alles war. Da seine Versorgung plötzlich auf Diät gesetzt war, da er ohne leben musste, sah Jackson wirklich erst jetzt, wie ausgesprochen wichtig Sex war. Er musste nicht nur auf die Aktivität an sich verzichten, bei der der runde Stift in das runde Loch gesteckt wurde, sondern auch auf all die schattigen Blicke und versehentlichen Berührungen, das Flüstern, Lachen und Lächeln, das mädchenhafte Zurückschieben einer rötlichen Strähne hinters Ohr oder auf zwei zarte Finger auf seinem Unterarm, die ihm einst den Tag elektrisiert hatten. Also vermisste er weniger die Sache an sich als die Energie, die alles andere antrieb; Sex war nicht das Ziel, sondern der Treibstoff. Mit leerem Tank hatte Jackson keine Freude am Essen, wodurch er unweigerlich mehr aß. Alkohol löste kein Hochgefühl mehr aus, sondern machte ihn reizbar; stets hoffnungsvoll, dass ein weiteres Bier ihn in die großspurige Stimmung von einst zurückversetzen werde, trank er auch mehr. Gequält und ausgehöhlt, wie er war, dachte Jackson zu selten darüber nach, dass auch Carol auf Diät gesetzt worden war, dass auch Carol der Sprit ausgegangen war, dass Carol aufgrund einer fatalen Mischung aus seiner Dummheit und ihrem anhaltenden Unmut ja selbst ohne Sex leben musste.
Inzwischen lösten die dräuenden Kreditkartenschulden das seltsame Gefühl in ihm aus, verfolgt zu werden. Wenn er durch die Straßen ging, sah Jackson aus dem Augenwinkel eine Gestalt oder hörte hinter sich ein Rascheln im Gebüsch, fühlte sich gejagt von einer flüchtigen Gestalt, die sich, sobald er sie ins Visier nahm, als ein Zweig im Wind oder der Nachbarshund entpuppte. Dennoch war die Gestalt stets in seiner Nähe. Mit den Schulden war es weitaus schlimmer, als Carol je hätte ahnen können. In einem vorgeblich großzügigen Versuch, beim Bürokram mitzuhelfen, hatte er die Haushaltskasse übernommen, da Carol sämtliche Krankenversicherungsforderungen regelte. Um ihre Besorgnis angesichts der Unmenge Plastikkarten zu zerstreuen, ließ er sich die Rechnungen einiger Karten ins Büro schicken; drei weitere waren papierlos, und er zahlte das Minimum jeweils online. Er fragte sich, ob das damit einhergehende Gefühl der Krankhaftigkeit und drohenden Katastrophe vielleicht in irgendeiner Weise Glynis’ Erfahrung mit dem Krebs widerspiegelte. Er wollte keineswegs schmälern, was Glynis durchmachen musste, aber es schien ein Zusammenhang zu bestehen; Jackson hatte finanziellen Krebs. Das heißt, selbst wenn er an etwas ganz anderes dachte, nagte etwas Falsches und Böses auf ähnliche Weise an ihm, wie etwas Falsches und Böses an Glynis nagte, wenn sie sich gelegentlich bei ihren verflixten Kochsendungen auf eine der Speisen konzentrieren konnte, die sie niemals zubereiten würde. Eine tödliche Krankheit war die Insolvenz des Körpers. Glynis und Jackson lebten beide mit der Angst vor jenem ungenannten bevorstehenden Tag, wenn der Geldeintreiber an die Tür klopft und nach ihrem Pfund Fleisch verlangt.
Ähnlich wie man mit dem Rauchen anfängt, wenn man ohnehin die denkbar schwerste Krankheit hat … Ähnlich wie junge Mädchen jedwede Verhütung in den Wind schlagen, weil sie ohnehin schon schwanger sind … Ähnlich wie sich die krankhaft Fettleibigen sagen, was soll’s, jetzt wiege ich schon dreihundert Kilo, die ich nie wieder abnehmen werde, warum nicht noch ein Stück Kokostorte essen, wenn ich Lust drauf habe … war Jackson in ein so tiefes finanzielles Loch gefallen, dass es an keinem Punkt mehr eine Rolle zu spielen schien, ob er das Loch noch einen Teelöffel tiefer aushob. Außerdem schien er in eine Feedback-Schlaufe geraten zu sein: Die Schulden machten ihm ein schlechtes Gewissen. Und indem er seine eigene Zukunft, die Zukunft seiner Frau und die Zukunft seiner Kinder in Gefahr brachte, war es ja richtig , dass er ein schlechtes Gewissen hatte, und um sich zu
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