Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
zurückblicken.«
Die Tür bewegte sich, und Carol schaute ins Zimmer. »Ich weiß nicht, wer von euch beiden unartiger ist, aber ihr laugt euch gegenseitig aus.«
Glynis bat Carol herein, wobei sie als gesunder Mensch ein Fremdkörper war, aus einem anderen Land mit eigentümlichen Bräuchen, deren Bewohner betrügerische übermenschliche Kräfte besaßen; die Gesprächsdynamik wirkte bald gezwungen. Glynis spielte mit dem Gedanken, Carol zur Seite zu nehmen und zu fragen, was mit ihrer Ehe los sei, bis ihr aufging, dass es ihr egal war. Sie war plötzlich so abgrundtief müde, dass sie Flecken vor den Augen hatte und das Schlafzimmer um sie herum immer enger wurde; nichts und niemand kümmerte sie jetzt noch, nicht mal Flicka. Also teilte sie stattdessen in Kurzform mit, dass sie nächste Woche wieder einen neuen Chemiecocktail ausprobieren werde, und Carol tat ermutigt.
»Das klappt nicht«, lallte Flicka auf dem Weg hinaus, »es gibt sowieso wieder Blutegel.«
VIELLEICHT WAREN ES die Blutegel, aber als die Gäste gegangen waren und sie sich von der Tür abwandte, musste Glynis daran denken, wie sich kurz nach ihrem Umzug nach New York, noch vor Shepherds Zeit, in der Küche ihrer winzigen Wohnung in dem Haus in Brooklyn ein Kakerlakenproblem entwickelt hatte. Natürlich mochte sie keine Kakerlaken, aber statt sie zu bekämpfen, sich an die Mühen der Vernichtung mit Insektenfallen und Borsäure zu machen, hatte sie weggeschaut . Zwischen dem Küchenschrank und der Wand, wo sie die Papiertüten aus dem Supermarkt aufbewahrte, befand sich ein Riss, und es dauerte nicht lange, da begannen sich die Tüten von selbst zu bewegen. Sie wusste auf abstrakte Weise, dass sich dort das Nest befand, und konnte nicht umhin, sie beim Frühstückmachen leise rascheln zu hören. Aber sie hatte sich darin geschult, beim Betreten des Raums den Blick geradeaus zu richten und mit sorgsam geneigtem Kopf um die Spüle und den Kühlschrank herumzugehen, damit die Stelle mit den Papiertüten am verschwommenen Rand ihres Sichtfelds blieb. Irgendwann wurde das Nest so groß, dass es einen dunklen Fleck an der Wand bildete, aber solange sie den Fleck nicht direkt ansah, stellte er sich nicht als wimmelnde Menge widerlicher, einzelner, haufenweise übereinanderkrabbelnder Insekten dar, sondern blieb ein Schatten.
Das Gefühl, das sie jetzt hatte, war identisch und hatte sie seit ihrer Diagnose immer wieder heimgesucht. Da war ein dunkler Fleck, ein Schatten, den sie nicht direkt fixieren wollte, und indem sie ihr geistiges Auge auf andere Dinge richtete, egal, auf was, nur nicht auf diese wimmelnde Ecke, war sie die meiste Zeit in der Lage, das Bild als optische Täuschung abzutun. Aber ähnlich wie bei den Kakerlaken wurde der Fleck immer schwärzer und größer, je länger sie ihn ignorierte, und desto größer wurde der Bogen, den sie im Kopf um ihn herummachen musste. An Abenden wie diesem raschelte er leise wie Tausende Beinchen hinter braunem Papier.
Kapitel 16
Aus den Umständen hätte man lernen können, dass Sex nicht alles war. Beim Verlust des Augenlichts zum Beispiel wurden doch angeblich alle anderen Sinne geschärft, sodass Blinde zur Kompensation ein übermenschliches Gehör und eine geradezu unheimliche taktile Sensibilität entwickelten. Analog dazu hätte auch die sexuelle Enthaltsamkeit das ganze phantasmagorische Füllhorn all jener anderen Freuden des Lebens nur intensivieren müssen.
Doch indem er sich in säuerlicher Stimmung den überspannten Ausdruck phantasmagorisches Füllhorn all jener anderen Freuden des Lebens ausdachte, fielen Jackson keine ein. Welche Freuden? Er hasste seinen Job. Sein vermeintlich »bester Freund« war inzwischen genau der Mann auf der Welt, dem er am dringendsten aus dem Weg gehen wollte. Der Gleichgewichtssinn seiner ältesten Tochter hatte sich so drastisch verschlechtert, dass sie bald im Rollstuhl sitzen würde. An sein jüngeres Kind kam er aufgrund von dessen Schutzbarriere aus Fett und Fast Food kaum heran, wobei er sich beim Durchdringen der stumpfen, aufgedunsenen Fassade seiner Zwölfjährigen ohnehin nur ihren Zorn zugezogen hätte, nachdem sie jahrelang mit »Cortomalaphrin« für dumm verkauft worden war und sich selbst standhaft geweigert hatte, das Wort Placebo nachzuschlagen. Und seine Frau, so nah und doch wie hinter Glas, lebte im Grunde in einem Paralleluniversum; er stellte sich vor, dass dieses Gefühl, zu winken, zu rufen und auf und ab zu springen, während
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