Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Sessel, wie Fernsehsessel, mit kleinen Trennwänden, die einem Privatsphäre vorgaukeln sollen. Man will immer ein bisschen früher da sein, um einen der Sessel am Fenster abzugreifen, mit Blick auf den Hudson. Wobei ich kaum glaube, dass E. M. Forster an die Colombia-Presbyterian-Klinik gedacht hat, als er Fenster mit Aussicht schrieb.«
»Sorry, aber ich kann dir gerade nicht folgen.«
»Ja, das hat man davon, wenn man einem Kind sein Herz ausschüttet.« Flicka machte ein finsteres Gesicht. Für ihre Begriffe war sie kein Kind mehr.
»Das heißt, wenn ich schnell bin, kriege ich meinen Premiumplatz in der ersten Reihe. Und ob du’s glaubst oder nicht, es kommt dann jemand mit einem Getränkewägelchen vorbei, genau wie im Yankee Stadium. Man soll eben andauernd trinken, aber ich lass mich nicht rumkommandieren. Ich hab’s satt, jedes Mal, wenn ich pinkeln muss, den Tropf bis zur Toilette hinter mir herzuschleppen. Dann wird mein rechter Arm in warmem Wasser eingeweicht, was zu meiner Zeit beim Zelten ein Trick war, um jemanden im Schlaf dazu zu bringen, sich in die Hose zu machen. Wenn ich dann endlich den Verband um den Arm gelegt bekomme, ist mir schon schwummrig, selbst mit Marzipan. Es ist nicht mal so, dass die Spritze so wehtut; es ist allein die Vorstellung. Also hält mir Nancy immer die andere Hand, und ich muss ihr die ganze Zeit in die Augen sehen, während die Schwester nach einer Vene tastet, und sie erzählt mir lauter grausige Kochrezepte … mit Götterspeise und Puddingpulver und Birnen aus der Dose! Ich glaube, inzwischen weiß sie, dass ich die Vorstellung, mit Kartoffelbrei-Fertigpulver zu kochen, widerlich finde, und sie versucht, sich die allerschrecklichsten Gerichte auszudenken. Die lenken mich ab. Dann, nach dem Glukoserausch … Tja, das ist surreal.«
»Wie, ›surreal‹?«
»Eine Krankenschwester bringt die Chemo in so einer Art Schulranzen – in schulbusgelb. Nur statt eines Bildes von Daffy Duck steht auf beiden Seiten eine Warnung in fetten Großbuchstaben, ZYTOTOXISCH, will heißen, Komm nicht mal in die Nähe von diesem Zeug, sonst bist du sofort tot. Und das stimmt. Und wir sitzen ruhig da, während sie die Tüte an unseren Tropf anschließen. Wir blättern in Zeitschriften oder schauen auf den kleinen Fernseher an unserem Sessel, während dieser giftige Dreck stundenlang in unseren Arm tropft. Die Schwestern rennen von Sessel zu Sessel und verteilen Pillen wie Bonbons – alles gegen die Nebenwirkungen von dem Dreck. Währenddessen kommt ein leises, regelmäßiges Geräusch aus dem Tropf, kowakak, kowakak … Ich schlaf davon immer ein. Wir lassen uns alle den Schierlingsbecher spritzen, folgsam wie Schafe, wie die Juden in der Schlange vor den Duschen. Ist das etwa nicht surreal? Jedes Mal, wenn ich da bin, denk ich sofort an … das hab ich noch keinem erzählt; es ist zu abgefahren. Aber hast du schon mal Raumschiff Enterprise geguckt?
»Jetzt komm mal runter. Ich hör vielleicht keine Platten mehr, aber Raumschiff Enterprise ist mir immerhin ein Begriff. Papa und ich finden’s geil, Mama findet’s blöd.«
»Es soll blöd sein! Deine Mutter muss mal ein bisschen locker werden.«
»Sag bloß.«
»Auf jeden Fall gibt’s da diese eine Episode, irgendwas mit einem Planeten, auf dem der Krieg aufhört, weil sich beim Waffenstillstand auf beiden Seiten eine Unmenge Leute finden, die sich bereit erklären, nach einem regulären Zeitplan in eine Kammer zu gehen und sich freiwillig einschläfern zu lassen. Es läuft alles ganz manierlich ab; weißt du, Raumschiff Enterprise spielt immer wahnsinnig gern auf die Nazis an. Und dann taucht Captain Kirk auf und macht das Ganze zunichte, indem er eine seiner langatmigen, emphatischen Reden hält, dass sie jetzt wieder dazu übergehen müssten, sich auf herkömmliche Weise umzubringen oder Frieden zu schließen. Jedes Mal, wenn ich in die Klinik fahre, stelle ich mir vor, wie Captain Kirk in die Onkologie platzt und sieht, wie sich auf diesem irren Planeten die Leute wie die Lemminge Strychnin in die Adern pumpen lassen. Ich sehe ihn, selbstgerecht und völlig entsetzt, wie er hektisch den Leuten die Spritzen aus dem Arm reißt. Wie er eine donnernde, selbstgerechte Rede darüber hält, wie barbarisch das sei und dass man eine Krankheit doch nicht mit Gift bekämpfen könne. Ich bin wirklich überzeugt, dass man irgendwann genau so auf die Chemotherapie zurückblicken wird, wie wir heute auf Aderlass und Blutegel
Weitere Kostenlose Bücher