Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
ja, das waren noch Zeiten, als Gäste fragten: »Und, woran arbeitest du gerade?« oder »Wann ist eure nächste Auslandsreise?«
»Nächste Woche«, sagte Glynis. »Deswegen döse ich dir auch gerade nicht weg. Die letzte ist schon ein paar Wochen her. Aber sie machen’s nur, wenn mein Blutbild besser ist als negativ Null.«
»Die Chemo – du hast mir nie davon erzählt. Wie ist das eigentlich?«
Erstaunlicherweise fragten die Wenigsten danach. »Chemo« war zu einer solchen Standardabkürzung geworden für Leute in Glynis’ Alter, dass jeder davon ausging, ohnehin schon zu wissen, wie es war. Dabei wusste man es eben nicht.
»Na ja, manche kommen allein, und andere bringen jemanden mit. Ich zum Beispiel bin ja nicht so gesellig –«
»Große Überraschung.«
»Alle halten mich für reserviert und schnöselig.«
»Bist du ja auch.«
Verblüffend, was sich Glynis bieten ließ von dieser vorlauten, verkümmerten Siebzehnjährigen; bei niemand anderem hätte sie so etwas geduldet. »Das kannst du mir ja wohl kaum vorwerfen. Wenn die da rumschreien und damit prahlen, wie viel sie kotzen müssen oder was sie nach der letzten Behandlung für einen tollen bunten Ausschlag bekommen haben … da brech ich lieber alleine zusammen.«
»Ich halte mich auch nicht gern in der Nähe anderer FD-Kinder auf«, sagte Flicka und wischte sich routiniert mit dem Schweißband an ihrem Handgelenk den Speichel weg. »Geht uns aber allen so. Das Sommerlager ist ja noch okay, aber in der Selbsthilfegruppe war es am Ende so, dass fast niemand mehr gekommen ist. Die Eltern treffen sich noch. Aber wir, die ganzen Freaks, haben uns ausgeklinkt.«
»Das wundert mich eigentlich. Es gibt doch nur so wenige von euch. Wollt ihr denn nicht mal Erfahrungen austauschen?«
»Würdest du an meiner Stelle in den Spiegel gucken wollen? Wenn nur ich es bin, kann ich’s irgendwie ausblenden. Ich kann nicht so toll laufen, aber irgendwann komm ich schon ans Ziel. Dann seh ich diese ganzen anderen Kinder, und die sehen total spastisch aus. Dann wird mir klar, dass ich genauso spastisch aussehe. Kann ich drauf verzichten.«
»Damit du nicht denkst, ich sei nicht gesellschaftsfähig, vor meiner letzten Chemo habe ich mich im Warteraum mit jemandem unterhalten, weil ich zufällig mitbekommen hatte, dass derjenige auch ein Mesotheliom hat, und das ist genauso wie FD: Wir sind nicht viele. Irgendein Bauunternehmer, der wahrscheinlich mit Asbest gearbeitet hat. Wie sich herausstellte, ist er immer noch berufstätig . Das konnte ich kaum glauben. Ich krieg’s während der Chemo nicht mal hin, die Küchentheke abzuwischen, und er baut Mauern. Aber er kann nicht aufhören. Er muss wegen der Versicherung weiterarbeiten.«
»Na, da haben wir aber Glück. Shep und meine Mutter machen total beschissene Jobs, damit du und ich stilvoll zu Tode gequält werden.«
Seit Beginn dieser Horrorshow hatte Flicka bei Glynis eigenartige geständnishafte Ergüsse ausgelöst. Aber selbst die hatten ihre Grenzen. Es käme nicht infrage, diesem Teenager zu erklären, dass Sheps »beschissener Job« Teil seiner Strafe war. Für Pemba, dafür, dass er Nach-Nachher plante, in dem seine Frau keine Rolle mehr spielen würde, und dafür, dass sie Krebs hatte.
»Jedenfalls«, sagte Glynis, um wieder auf das Thema zurückzukommen, »begleitet mich meistens Nancy, unsere Nachbarin, die mir früher auf die Nerven ging und die ich inzwischen vergöttere. Erst entspannen wir ein bisschen im Warteraum und gucken uns die Kopfbedeckungen an; die meisten Frauen tragen Kopftücher wie Babuschkas, man ist wie in einer Zeitschleife, zurück ins Schtetl. Die Männer sind da kreativer – Pork-Pie-Hüte, Baseballkappen, manchmal ein schicker Filzhut. Es gibt einen, der kommt immer in einem großen Cowboyhut mit Silbersternen. Bevor wir losfahren, nehme ich immer Aprepitant, das Marzipan versuche ich schon eine halbe Stunde vorher zu nehmen. Ach ja, und beim Warten werfe ich mir sicher noch eine Handvoll Pillen ein. Dieses Ledertäschchen, weißt du, das mir deine Mutter für meine Medikamente geschenkt hat, ist super. Vorher habe ich aus dem Tiefkühlbeutel gelebt. Andere Besucher tauchen mit Duftkerzen auf, von denen ich würgen muss. Aber deine Mutter hat einfach ein Händchen für Geschenke.«
»Ja, wenn’s um medizinische Sachen geht, ist sie ziemlich cool.«
»Ach ja, und dann läuft immer so ein irre lustiger Wettbewerb, wer die guten Sessel bekommt. Es gibt da ganz viele bequeme
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